Pick and Rollt. #16: Weniger Zufall kann nicht schaden – Wie man vorher schon ahnen kann, was gleich passiert!

Am Besten läuft ein Spiel, wenn man vorher alles planen kann. Ja, ich weiß – im echten Leben kann man nicht alles planen. Trotzdem schmiedet man seine Pläne – und dann geht’s los, und bei manchen läuft fast alles nach Plan, und bei anderen fast nichts. Ist das Zufall – oder nicht?
Rollt. Ich will Euch heute einen Einstieg geben in ein bisschen Rollstuhlbasketball-Voodoo: Wir nehmen den Zufall aus dem Zufall. Na gut, ganz wird das nie gehen, aber zumindest ein wenig können wir „steuern“, wie sich der Gegenspieler verhält. Man schenkt dem Gegner einen winzigen Vorteil und prägt damit seine Entscheidung vor. Und man bekommt dafür das Wissen, welche Entscheidung der Gegner wahrscheinlich trifft. Das Prinzip dahinter nennen wir „überspielen“, und es ist ein mächtiges Werkzeug – vielleicht das mächtigste – von erfahrenen Spielern.
Am Einfachsten ist es aus der Sicht der Defense heraus erklärt: Die häufigste und erfolgsversprechendste Weise, einen Gegenspieler zu schlagen, ist die Attacke in seinen Rücken. Die zweiteffektivste Attacke ist, den Raum zu nutzen, wenn man Geschwindigkeits- oder Klassifizierungsvorteile auf seiner Seite hat. Das weiß allerdings nicht nur der Angreifer, sondern auch der Verteidiger. Entsprechend wird er seinen Gegner spielen – und hier trennt sich dann die Spreu vom Weizen.
Denn anders als bei der 1:1-Verteidigung, wo wir alles daran setzen, nicht im direkten Matchup zu verlieren, ist die Grundannahme beim Überspielen, dass wir 1:1 irgendwann geschlagen werden. Das Überspielen hilft uns dann, so geschlagen zu werden, dass wir effektiv helfen können. Oder dass wir die Attacke antizipieren können, um selbst im 1:1 besser zu bestehen.
Der ganze Trick dabei ist, dem Angreifer einen „Lockvogel“ zu bieten: Wir bieten den Rücken in der Richtung an, wo wir geschlagen werden „wollen“, oder wir lassen in eine Richtung etwas mehr Abstand als nötig. Natürlich kann der Angreifer ahnen, dass diese „Einladung“ der Verteidigung hilft, Angriffe zu antizipieren. Aber richtig „überspielt“ braucht der Angriff gegen das Überspielen genau den größeren Weg, den Bruchteil einer Sekunde, der den Verteidigern hilft, die unerwartete Situation zu verarbeiten.
Die Position, wo man naturgemäß am meisten Überspielen muss, ist die Mitte einer Zonenverteidigung – hier geht es ganz zentral darum, den Gegenspieler klar auf eine Seite zu bringen und damit drei Dinge in den Griff zu bekommen: Zunächst wollen wir natürlich direkte Cuts aus der Transition zum Korb verhindern – Überspielen bringt den Angreifer mehr oder weniger planbar in die Nähe eines anderen Verteidigers, der sein „Glück“ bereits im Voraus kennt. Wenn wir die Attacke lenken, können wir damit auch steuern, auf welcher Seite größere Lücken entstehen und wo der Raum zumindest vorübergehend eng wird – oder andersherum: Wir können auch steuern, von welcher Seite wir zunächst keine Hilfe bringen müssen. Und schließlich – und das ist vielleicht das Wichtigste: Wir können auf diese Weise einem Verteidiger clever helfen, ohne zu switchen und ohne eine volle Rotation auslösen zu müssen.
Böhme sucht die Anspielstation

Böhme sucht die Anspielstation

So, und jetzt kommt das Schwierige daran: Überspielen ist nicht banal, nicht einfach und vor allem schwer, durch Beobachten zu lernen. Entweder sieht man nur „gute Defense, wow“, oder man merkt: „Hmm, da stand er schlecht, aber gerade noch einmal gut gegangen.“

Und genau darum geht es – bewusst und gezielt ein kleines bisschen „falsch stehen“, – gerade so, dass es dem Gegner eine Entscheidung förmlich aufdrängt, und dabei  aber immer noch so zu stehen, dass man die Situation selbst mit dem zusätzlichen Wissen, was wahrscheinlich passieren wird, noch entschärfen kann. Denn wenn wir so stehen, dass der Gegner ohne jede Mühe das Offensichtliche tun kann, lädt das einfach nur eine volle Verteidigungsaufgabe auch noch bei einem ohnehin beschäftigten Mitspieler ab. Und das wollen wir natürlich nicht, denn das ist de facto eine Unterzahlverteidigung – gar nicht gut.
Stellt Euch also für den Anfang eine Linie zwischen Eurem Gegner und dem Korb vor – nehmen wir als Beispiel einen 45°-Winkel zum Korb. Idealerweise stellt ihr Euren Gegner direkt auf dieser Linie und haltet ihn dort. Aber was, wenn das nicht klappt? Euer Gegner ist ein Rechtshänder? Dann ist die Bahn, die ihr am Ehesten preisgeben wollt, der Weg zur Freiwurflinie. Dort muss ein Rechtshänder nämlich den Stuhl noch drehen, um in eine gute Wurfposition zu kommen. Wenn es nun dazu kommt, dass wir den Gegner nicht mehr halten können, stellen wir sicher, dass er nicht zur Baseline schneidet. Also: Fußraste zur Baseline – nun ist die Attacke in den Rücken zur Freiwurflinie offen – und eventuell ein paar Handbreit aus der gedachte Linie Richtung Baseline und Korb sinken. Nun wird der Gegenspieler relativ sicher attackieren, und ihr könnt ihn meist wieder von seiner linken Seite aufnehmen. Er wird Euch sehr wahrscheinlich schlagen, ihr verliert sicher Raum dabei – aber ihr wusstet vorher, was passieren wird und werdet es wahrscheinlich schaffen, zumindest die Drehung mit der Wurfhand zum Korb zu verhindern. Und rechts vom Angreifer steht bereits ein weiterer Verteidiger, der Druck auf die Wurfhand ausüben kann, ohne zuvor explizit Hilfe spielen zu müssen.
Zugegebenermaßen – das klingt auf Papier sehr fortgeschritten. Nehmt die Idee mit ins Training, denkt Euch im diese gedachte Linie zwischen Angreifer und Korb, und versucht mal, diese Abwägung zu treffen: Wenn ich schon geschlagen werde, was will ich aufgeben? Und warum? Viel Spaß und Erfolg dabei!
Daniel-Stange-199x300Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.”   

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