Ausgangssituation, was ist passiert? | Im Paralympics-Viertelfinale der Herren zwischen Deutschland und Spanien, wird, bei einer Restspielzeit von 5:20 Minuten, Ballbesitz Spanien und vier Punkten Rückstand im letzten Viertel, der Rollstuhl von Asier Garcia von der deutschen Bank beim Kampfgericht protestiert. Anhand der Fernsehbilder ablesbar, wird die Sitzhöhe des Stuhls gecheckt. Die Überprüfung ergibt keine Unregelmäßigkeiten, und es wird ein technisches Foul gegen die deutsche Bank verhängt.
Im Regelwerk ist seit einigen Jahren verankert, dass anstelle einer Überprüfung aller Rollstühle vor dem Spiel, während des Matchs – bei Verdacht auf Unregelmäßigkeiten – ein Protest eingelegt werden kann, der eine sofortige Überprüfung des beanstandeten Rollstuhls nach sich zieht. In der Vergangenheit wurden z. B. Sitzhöhe und Höhe des vorderen Abweisers durch die Schiedsrichter kontrolliert. Bestätigt sich der Verdacht, wird ein technisches Foul gegen den protestierten Spieler ausgesprochen, und mit dem betroffenen Rollstuhl darf die Partie nicht mehr fortgesetzt werden (im Falle von Asier Garcia wäre es aufgrund eines zweiten technischen Fouls sein Spielende gewesen). Bestätigt sich der Verdacht nicht, wird ein technisches Foul gegen die protestierende Bank verhängt.
Warum protestierte ich (gegen) einen gegnerischen Rollstuhl?
1. Ich weiß oder bin mir sehr sicher, dass der Stuhl des Gegners regelwidrig ist und kann den betroffenen Spieler somit vom Spiel disqualifizieren.
2. Ich nutze die Überprüfung als taktisches Mittel, um den gegnerischen Spieler in seinem Spielfluss zu irritieren und ggf. mental zu beeinflussen. Als Bonus habe ich die Chance auf einen “Glückstreffer” und der Rollstuhl ist tatsächlich regelwidrig, was zu Punkt 1 führt.
Warum protestierte ich den gegnerischen Rollstuhl ca. zur Mitte des letzten Viertels bei kleinem Rückstand und nicht ggf. früher oder vor dem Spiel?
Sowohl unter 1. als auch unter 2. spiele ich zunächst das Spiel und muss z.B. bei einer eigenen (deutlichen) Führung überhaupt nicht auf das Mittel zurückgreifen. Aus meiner Sicht also ein taktisches Mittel, um mit einem Coaching-Impuls das Spiel zugunsten der eigenen Mannschaft beeinflussen zu können (wohlgemerkt: können, Risiken nachfolgend beschrieben). Weiterhin besteht bei erfolgreichem Protest in dieser Situation unter 1. keine Vorbereitungszeit für den Gegner mit den neuen Gegebenheiten umzugehen. Protestiert man erfolgreich vor dem Spiel, kann die gegnerische Mannschaft sich mit Vorlauf und über das gesamte Spiel darauf einstellen. Unter 2. unterbreche ich den Spielfluss und beeinflusse ggf. den betroffenen Spieler in seiner Leistung (nicht notwendigerweise negativ).
Was ist der Vorteil, den ich mir vom Protest erhoffe?
1. Die sichere Disqualifikation eines zentralen gegnerischen Spielers. In der speziellen Situation zudem statt Ballbesitz Spanien, ein Freiwurf + Ballbesitz Deutschland, was den Rückstand hätte egalisieren können. Im weiteren Spielverlauf eine signifikante Schwächung des Gegners beim Scoring, Rebounding und ganz zentral, der Spielführung.
2. Bei einem “Glückstreffer” alle Punkte wie unter 1. genannt. Bei regelkonformem Rollstuhl besteht zumindest die Chance, dass ich “in den Kopf” des Spielers gekommen bin und sein Spiel negativ beeinflusse.
Was sind die Risiken?
1. Im Grunde keine. Im schlimmsten Fall ist der Ersatz so motiviert bzw. spielstark und kann den disqualifizierten Spieler gleichwertig ersetzen.
2. In der speziellen Situation hätte Spanien Ballbesitz gehabt. Das unmittelbare Risiko bei Feststellung eines konformen Rollstuhls war also ein technisches Foul mit einem Freiwurf sowie dem bereits bestehenden Ballbesitz für Spanien.
Im weiteren Verlauf kann der protestierte Spieler durch die Provokation natürlich derart motiviert sein und seine Leistung nochmals steigern.
Wie ist es im Spiel Deutschland – Spanien gelaufen?
Für Nic Zeltinger ist der Worst Case eingetreten. Asier Garcia hat einen konformen Stuhl, trifft den Freiwurf und in den folgenden beiden Angriffen zwei weitere Würfe für zwei und drei Punkte. Der Rückstand Deutschlands wuchs von vier auf acht Punkte an.
Wie sehe ich den Protest?
Grundsätzlich mag man den Protest als taktisches Mittel als unsportlich oder unethisch ansehen. Ich empfinde dies jedoch als eine geniale Möglichkeit des Rollstuhlbasketball clever Einfluss zu nehmen. Für mich vergleichbar mit dem Foulen zum Spielende, um bei Rückstand erneut in Ballbesitz zu gelangen. Das ist für mich ein Aspekt, den ich an Basketball liebe. In anderen Sportarten wie z. B. Handball sieht man eine totale Hilflosigkeit, in den letzten 30 bis 60 Sekunden bei Rückstand noch auf das Spiel einzuwirken.
Das unmittelbare Risiko bestand lediglich darin einen Freiwurf zu kassieren, was aus meiner Sicht durch alle potenziellen Vorteile mehr als ausgeglichen wird. Das “Wachrütteln” durch ein T gegen Nic Zeltinger beispielsweise nach einem nicht gegebenen Foulpfiff hätte ausschließlich die negativen Folgen des Ts nach sich gezogen. Mental und emotional natürlich ein enormer Unterschied, da ein Protest eher auf das gegnerische Team einwirkt und ein T durch energische Beschwerde eher auf das eigene Team als Signal einwirkt.
Im Ergebnis ist das passiert, was man aus meiner Sicht erreichen wollte. Asier Garcia ist kurzzeitig überdreht, hat die nächsten beiden Angriffe selbst abgeschlossen und überhastete, in der Trefferquote nicht die besten Würfe genommen. Zudem waren Gestiken (z.B. Fingerzeige) in Richtung deutsche Bank zu sehen, was auf eine mentale Beeinflussung hindeutet. Aus Sicht des Team Germany hat er beide Würfe leider getroffen und der schlechteste Fall ist eingetreten, da Garcia in dieser Situation kurzzeitig einen positiven Schub hatte. Im Ergebnis sieht die Entscheidung zum Protest schlecht aus, war aber wie beschrieben aus meiner Sicht eine valide taktische Variante, um einen positiven Impuls für das eigene Team zu erzeugen.
Verfehlt Asier Garcia den 3er und das Team Germany trifft nur zwei der offenen Korbleger/Würfe dieser Phase, kippt das Spiel ggf. in die andere Richtung.
In einem ähnlichen Fall hat Australien bei der WM 2014 einen Südkoreaner im Viertelfinale protestiert, der sie vor enorme Probleme gestellt hat. Hier war der Protest erfolgreich und das Spiel ist zugunsten der Australier gekippt.
Dies ist selbstverständlich nur ein kleiner Aspekt des Spiels und man kann Sieg und Niederlage an vielen weiteren, insbesondere dem Defensivverhalten, analysieren. Der Protest war aus meiner Sicht eine sehr interessante Wendung im Spiel, die einer differenzierten Betrachtung bedurfte.
Text: Kai Gerlach | Foto: Uli Gasper