Die deutschen Herren sind bei der Heim-WM in Hamburg im Achtelfinale gegen das Team aus Großbritannien ausgeschieden. Vier Spiele, drei Niederlagen standen bis zum 21. August zu Buche. Der Tag, an dem ich begann, die folgenden Zeilen zu schreiben, um mir persönlich ein Stück weit Luft zu machen und das Gesehene in Hamburg zu verarbeiten. Bevor ich jedoch meine Sichtweise an den Tag legen wollte, wollte ich die Bundestrainer hören, die mir meine Fragen – wie immer – zeitnah beantworteten und hier nachzulesen sind: Martin Otto & Nicolai Zeltinger.
Das Abschneiden der Herren war für alle Rollstuhlbasketball-Fans ernüchternd. Daran änderte auch der Sieg gegen Südkorea im Spiel um Platz 13 nicht mehr viel. Was jetzt – nach der WM – folgen muss, ist eine bedingungslose Analyse und eine detaillierte Fehleraufbereitung. Man(n) kann verlieren, wenn man(n) alles gibt. War dies bei den deutschen Herren der Fall? Nein. Es fehlte ganz klar an den „Grundemotionen“. Überall war zu vernehmen, dass sich die Spieler – wie auch der Trainer- und Betreuerstab – auf die WM freuen, sie heiß wie Frittenfett sind und Bock haben. Interviews wurden gegeben, die Journalisten standen Schlange und sogar bis nach Japan flog die Zeltinger-Equipe, um sich bestmöglich vorzubereiten. Doch was blieb am (sportlichen) Ende? Nichts. Doch: enttäuschte Fans, enttäuschte Partner und enttäuschte Helfer und eine verpasste Chance. Was hat sich das Umfeld und Hamburg den Hintern aufgerissen, um der Nationalmannschaft ein Fest zu bereiten. Alle Spiele waren gut besucht. Doch die komplette Mannschaft sprang nicht wirklich an. Ich will jetzt auch nicht mit dem Finger auf einzelnen Akteure zeigen oder bestimmte Athleten in Schutz nehmen. Rollstuhlbasketball ist ein Teamsport. Schwächen des einen, werden durch die Stärken des anderen ersetzt. Ein schlechter Tag von Spieler A, wird durch einen guten Tag von Spieler B kompensiert. Doch die Emotionen und der Applaus der Fans verpuffte! Die Spieler brüllten selten, sie feuerten sich kaum gegenseitig an und es gab keinen, der alle wachrüttelte. Das war teilweise blutleer. Ja, vielleicht ist diese Formulierung ein bisschen hart, aber, liebe Leser, wir sprechen von einer Heim-WM und nicht von einem Freundschaftsturnier irgendwo in Hintertupfingen.
Schön sind dann auch immer diverse Quervergleiche, die angestellt werden, um Ergebnisse zu relativieren bzw. Dritten ein wenig Sand in die Augen zu streuen, wie das „gute Spiel“ gegen die Briten, die dann Weltmeister wurden. Schön und gut, mag stimmen. Doch kaufen konnte sich das Team Germany davon auch nichts. Wer wird sich in 20 Jahren noch an das Achtelfinale gegen das Team GB erinnern? Kein Aas.
Es mag sein, dass dem deutschen Team die athletischen und spielerischen Fähigkeiten fehlten, um mit den großen Rollstuhlbasketball-Nationen dieser Welt pinkeln zu gehen, aber eines, liebe Fans, kann jeder Sportler bzw. Nationalspieler auf dieser Welt: Kämpfen und fighten bis zum Umfallen, seine Kameraden anfeuern, einem heiß laufenden Nic Goncin im kanadischen Team auf die Finger hauen und sich vor heimischen Fans und anwesenden Familienmitgliedern den Allerwertesten aufreißen.
Team Germany – hinterfragt euch bitte alle
Bitte hinterfragt euch alle und hört auf die Fakten schön zu reden. Nehmen wir das Spiel gegen das Team GB. Da gab es Trefferquoten von 1-7, 0-10 und wiederum 1-7. Dann das Turnover-Festival gegen den Iran, die sachlichen und lieben Ansprachen des Bundestrainers, die das Hirn, aber nicht das Herz erreichten. Stumme Co-Trainer in weißen Hemden und Bankspieler, die dann in Jubel ausbrachen, als die Kollegen auf dem Feld durchstarteten und selten von sich aus losbrüllten, um die Mitspieler zu pushen und die Zuschauer zum Anfeuern zu animieren. Eine Mentaltrainerin, der die Frage gestellt werden darf, was sie denn nun eigentlich im Kopf, im Bewusstsein und in puncto persönlicher Zielsetzung erreicht hat. Das war, liebe Rollstuhlbasketball-Fans, biedere Kost und definitiv eine ausbaubare (Marketing-)Leistung für den Rollstuhlbasketball durch das Team Germany der Herren.
„Ich glaube unseren Sport und unser Spiel, was wir hier abliefern, war aller Ehren wert.“
Dieses Statement des Herren-Bundestrainers nach dem Spiel gegen Großbritannien hat mich in Hinblick auf den sportlichen Teil dann doch etwas gewundert. Was war aller Ehren wert? Drei Niederlagen aus vier Spielen bis zum 21. August? Eine Niederlage gegen ein verwundbares und suboptimal spielendes Team GB? Ich erwarte keinen Kniefall oder Kotau der deutschen Mannschaft oder des Staffs vor der Presse. Gott bewahre. Aber ein bisschen Selbstkritik darf es dann doch sein. Das zeugt von Ehrlichkeit und Respekt den Fans gegenüber und von Menschlichkeit. Strotzten die Social-Media-Kanäle der Spieler vor der WM nur so vor Euphorie, war es nach dem WM-Aus richtig leise. Kein „Wir sind raus, werden analysieren und dann wieder Gas geben“ oder „Die Gegner waren besser“. Alle haben sich versteckt, wie begossene Pudel. Nochmal: Es soll und muss sich keiner nackt machen, aber den Fans, die zu Hunderten in der Halle waren oder vor dem Rechner saßen, einen kleinen Wink zu geben, hat fast keiner hinbekommen. Schade.
Wo waren die Leader und Wachrüttler?
Alle die, die Basketball spielen oder gespielt haben kennen ihn: den Leader. Der Mann oder die Frau, die voran geht, das Heft in die Hand nimmt, Spieler beiseite nimmt, Mitspieler anschreit und wachrüttelt und als verlängerter Arm des Coaches fungiert. Eine Respektsperson mit autoritärer Strahlkraft. Wo waren diese Leader bei der WM? Ich habe sie nicht „gespürt“. Wie gesagt, meine Meinung bezieht sich auf die Spitze des Eisberges, den unter dem Wasser liegenden Teil, wie Training, Besprechung, Fahrten, Reisen etc., kann ich nicht beurteilen. Jan Gans fuhr mal einen Briten um, André Bienek ballte mal die Faust und Jan Haller brüllte mal in einer Auszeit. Mehr konnte ich auf dem Court nicht erkennen. Für eine Heim-WM war dies eindeutig zu wenig.
Die Trainer-Frage
Die „Zeltinger-Hater“ waren, wie nicht anders zu erwarten, schnell da. Sogar ein möglicher Rücktritt wurde im Inselpark zu Hamburg noch während des Turniers kolportiert. Tja, da sind die Kritiker immer sofort am Start, wenn es jedoch ums Anpacken geht, sind sie schnell in ihren Löchern verschwunden. Wer Nic Zeltinger kennt, weiß, dass er sein ärgster Kritiker ist und die WM an ihm nagt und nagen wird. Nur was wird sich ändern? Neues Spielermaterial kann er sich nicht von heute auf morgen backen, im Gegensatz zur Verabschiedung eines klaren Zukunftskonzepts in Abstimmung mit den Kommissionskollegen im Fachbereich.
Es fehlt auch, und das proklamiere ich seit längerem, ein Visionär oder eine Visionärin an der Fachbereichsspitze. Seit Ulf Mehrens‘ angekündigter „Abdankung“ herrscht Stille – zumindest für die breite Öffentlichkeit. Ein Entscheidungsvakuum, das den sportlichen und strukturellen Abstand zu den Rollstuhlbasketball-Topnationen vergrößert.
Aber zurück zum Bundestrainer: Wir alle wissen, dass Menschen sich nicht von Grund auf ändern, sie können jedoch an sich arbeiten. Der Bundestrainer ist detailliert, strukturiert und stets „generalstabsmäßig“ vorbereitet. Er weiß sogar in welche Richtung der Sprungball getippt wird. Was Zeltinger dabei verloren geht, und dies ist meine rein persönliche Meinung, ist das Erreichen der Spielerherzen. Der Tritt in den Hintern zur rechten Zeit, das Kassieren eines Ts als Trainer, um sein Team wachzurütteln, der Appell an das Ego und die „Gefühlswelt“ der Spieler. Ein einziges Brüllen habe ich in all den Auszeiten von ihm vernommen. Wo war der Hinweis auf die vielen Zuschauer in der Halle, die lange und harte Vorbereitung, die „mögliche Blamage“ vor 1.500 Fans etc.? Mag sein, dass er dies in der Mannschaftsbesprechung im Hotel oder in der Umkleide getan hat. In den Auszeiten und Viertelpausen war nichts zu vernehmen. Immer und immer wieder wurden Hinweise auf Spielsysteme, Wurf- und Reboundpositionen gegeben. Richtig und korrekt. Doch wo blieb die Ansprache an die Seele, das Herz und die gesteckten Ziele? Fehlanzeige. Im Film Vierzehneinhalb funktionierte dies bei ihm und Martin Otto übrigens perfekt. Mir steht es nicht zu, dem Bundestrainer, als erwachsenen Mann, Verhaltensweisen nahezulegen oder Erziehungstipps zu geben. Ich weiß auch, dass neue Trainerbesen nicht besser kehren, aber jeder kann sich und sein Wirken reflektieren. Und dies meine ich mit einer grundlegenden Analyse der WM aus sportlicher Sicht der Herren.
Lasst mich noch einen Satz zum Themenkomplex Co-Trainer loswerden. Man(n) kann von Ex-Co-Coach Ralf Neumann denken und halten was man(n) will. Er ist jedoch eine Kante, der, nicht immer zur Freude Dritter, das Herz auf der Zunge trägt. Einer der auch mal aneckt. Ein Gegenpol zu Bundes-Nic, den sich die Schwiegermutter, wie auch Co-Trainer Martin Kluck, gerne zum Kaffeeplausch einlädt, während der kernige und vor der Kamera gerne auch mal ein Sieger-Bier trinkende Neumann, auf der Einladungsliste ganz weit unten rangiert. Ich schätze Martin Kluck sehr. Vom Wesen her tickt er jedoch wie der Bundestrainer: analytisch, freundlich und bedacht. Ab und zu brauch es meines Erachtens einfach einen Gegenpol. Guter Bulle, böser Bulle. Laut und leise. Zuckerbrot und Peitsche. Von außen betrachtet ähneln sich Zeltinger und Kluck sehr. Wie gesagt, ich kann nur die Oberfläche beurteilen und nicht das, was darunter und abseits des Courts passiert …
Zitter-Bronze für die Damen
Was mich zu den deutschen Damen schwenken lässt. Fünf Siege aus fünf Spielen in der Vorrunde waren super, aber weiß Gott keine „Weltklasseleistung“ gegen Gegner wie Argentinien, Algerien oder Frankreich. Aber, so viel Fairness muss sein, das Ziel des Bundestrainers – das Viertelfinale – wurde erreicht. Also gibt es auch keinen Grund zu meckern. Schließlich war alles – so das Ziel Martin Ottos – was nach der Runde der letzten acht kam, die Kirsche auf der Sahne. Trübsal blasen verboten.
Dass am Ende eine „Zitter-Bronzemedaille“ gegen China heraussprang sei den Damen mehr als gegönnt, die wie die Herren, im Halbfinale Emotionen, Gefühle und Aufbäumen gegen eine gut eingestellte Equipe aus GB vermissen ließen. Alle Co-Kommentatoren im Livestream wiesen auf die Achillesferse im Spiel der deutschen Damen hin: die Schwächen bei einer Pressverteidigung des Gegners. Was Mohnen, Miller & Co. dann gegen GB zeigten, war ausbaufähig. Eine athletische und gut eingestellte Mannschaft aus Großbritannien spielte das Team Germany in der eigenen Halle an die Wand. Würfe unter Zeitnot und aus schwierigen Situationen führten dazu, dass Ottos Damen nie ins Spiel fanden. Waren Welin & Co. wirklich überrascht ob der Pressverteidigung? War GB so viel besser? Wie dem auch sei. Echten Kampf, echtes Anfeuern oder emotionale Appelle des Trainers an den Willen und den Geist der Damen habe ich – wie auch bei den Herren – in diesem Match vermisst. Wie einem Nic Goncin im Kanada-Dress, darf auch einer eskalierenden Helen Freeman mal auf die Hand gehauen werden, um zumindest zu versuchen, deren Rhythmus zu brechen.
Was ist der richtige Weg?
Fakt ist, dass etwas passieren muss, um den Anschluss an die Weltspitze nicht zu verlieren. Mal eben nach Geld zu brüllen, bringt auch nichts, da erst ein schlüssiges Konzept entwickelt werden muss, um mögliche Mittel auch zielgerichtet einzusetzen. Was bringt es, wenn ich einen Rollstuhlbasketballer voll bezahlen und für den Sport abstellen kann, wenn ich mir nicht gleichzeitig Gedanken über die Zeit nach dessen aktiver Karriere mache? Und was ist der richtige Weg? Das Modell „England“? Spielzeit in der RBBL? Eine Deutsch- oder Ausländerquote? Ich weiß, dass die Lehr- und Trainerkommission, die Bundestrainer und alle Kommissionen an der Zukunft arbeiten, aber warum erfährt der Fan darüber so wenig?
Den richtigen Weg müssen diejenigen finden, die dafür verantwortlich sind und auch dafür bezahlt werden. Das ist deren Job! So wie es meiner ist, den Finger hier und da mal in die Wunde zu legen, auch wenn es für einige nicht immer angenehm ist. Aber wie heißt es so schön: Everybody‘s darling is everybody‘s Depp. In diesem Sinne freuen wir uns auf die Ergebnisse der Bundestrainer-Zusammenkunft, der entsprechenden WM-Analyse und den Ergebnissen, die darauf folgen werden.
Text: Martin Schenk | Foto: Steffie Wunderl