Pick and Rollt. #01: MVP ohne Punkte? Was man in den Spielstatistiken nicht sieht

„Rollstuhlbasketball – der etwas andere Sport“, lautete mal ein Slogan. Und da ist schon was dran. Denn natürlich gibt es in allen Sportarten diese heimlichen Stars, die für die Mannschaften so unendlich wichtig sind, obwohl sie in keiner der Top-Listen auftauchen, nie MVP werden oder sonst irgendwelche Auszeichnungen bekommen. Im Rollstuhlbasketball ist es aber ganz besonders schwierig, den gerade die Spieler, die die meisten Zuschauer für reine Statisten halten, spielen meist eine ganz entscheidende Rolle. Darum soll es In der ersten Folge meiner Kolumne gehen, in der ich Euch einen Einblick in die Dinge geben will, die Otto-Normal-Fan vielleicht nicht auf den ersten Blick sieht.

Pick and Rollt.

Pick and Rollt.

Ein Spieler wie Patrick Anderson ist natürlich unerreicht in seiner Klasse: Spielintelligenz, Disziplin, Fleiß und Talent machen ihn in meinen Augen zum perfektesten Rollstuhlbasketballer aller Zeiten. Aber wenn ihr mich fragt, auf wen meine „All Star Five“ auf keinen Fall verzichten können, wäre meine Antwort wohl Mina Mojtahedi. Jetzt werdet ihr vielleicht sagen: „Moment, Mina Mojtahedi? Die hat in zwei Jahren beim RSV Lahn-Dill keine 10 Punkte gemacht und nur jeden 10. Wurf getroffen?“

Meine Antwort ist immer dieselbe: Die wichtigste Währung im Rollstuhlbasketball ist der Raum zum Fahren. Punkte und alles andere brauchen eine Position. Und da sind wir bei Mina Motjahedi: Das legendäre Champions-League-Finale von Istanbul 2012, bei der der RSV Lahn-Dill das übermächtige All-Star-Ensemble von Galatasaray entthronte, war eine Gala der kleinen Finnin mit iranischen Wurzeln. Schaut man sich die Highlight-Tapes des Spiels an, ist sie stets im Bild, auch wenn das nur dem geübten Zuschauer auffällt, weil die eigentliche Offensivaktion von Spielern wie Joey Johnson erst geschieht, wenn Mina ihre Arbeit gemacht hat. Am Ende hat sie das Spiel auf ihre Weise dominiert – mit einem leeren Scoresheet, wie fast immer.

Manchmal ein Wurf, ein Rebound, zwei Fouls – 40:00 Minuten. Das ist ein typischer Statistikbogen für die sogenannten „Lowpointer“, die Spieler der Klassifizierungen 1,0 und 1,5 – die besten und die schlechtesten. Wirklich sehen kann man daran nichts, weil die wesentlichen Leistungen hier nicht erfasst sind. Die echten Stars dieser Kategorie sind verbissene Verteidiger mit hervorragender Spielübersicht und Antizipation – und sie spielen ihr Spiel zugunsten anderer. Im Lehrbuch nennt man das auf Deutsch „Partnerhilfen“, also alles, was im Zusammenspiel „2 gegen 2“ dem Mitspieler hilft.

Eine der wichtigsten Techniken ist der „Seal“: Hier öffnet in der Regel ein Lowpointer einen Fahrweg für einen Scorer – es sieht spielend einfach aus, weil der nachfolgende Spieler eigentlich nur noch durch die entstandene Lücke fahren muss. Aber das Ganze braucht ein hervorragendes Zusammenspiel beider Spieler, Timing und absolut präzise Arbeit. Wenn das erstmal 100% automatisiert ist, kann man es nur noch mit absolut eingespielten Verteidigern halbwegs stoppen.

Fahren ist die wichtigste Währung im Rollstuhlbasketball

Fahren ist die wichtigste Währung im Rollstuhlbasketball

Das erklärt aber noch nicht, warum es für mich die „Königsdisziplin“ ist. Aber das ist schnell erklärt:  Ohne Lowpointer geht es nicht – und richtig gut ausgebildete und trainierte Lowpointer sind absolute Raritäten. Es ist gar nicht so leicht, solche Spieler zu finden und zu scouten, weil man ihre Arbeit in den Spielstatistiken nicht sieht, sie auszubilden dauert lange und wird selten so gefeiert wie die 40-Punkte-Spiele von den sogenannten „Fußgängern“, denen sie als Vorbereiter gedient haben. Und genau deshalb trennt sich an Spielern und Spielerinnen wie Mina die Spreu vom Weizen: Individuell bei den Spielern, auf Teamebene und bei den Coaches, wie sie solche Spieler einsetzen, und auf der Ebene der Vereine und Manager, wenn sie solche Spieler rekrutieren aufbauen. Wenn ihr genau schaut, sind die „Kleinen“ viel öfter als ihr glaubt, der X-Faktor – schaut mal beim nächsten Spiel genau hin.

Und wenn ihr Fragen oder Themenvorschläge habt, auf die ich bei der nächsten Kolumne eingehen soll, schickt mir eine Mail oder schreibt einen Kommentar – ich freue mich darauf!

 

 

Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.” %CODE1%

 

 

 

 

 

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