Keine Grenzen | Von der zweiten zur ersten Bundesliga in zwei Jahren: Marie Kier ist Spielerin der RSB Thuringia Bulls. In kürzester Zeit hat sie sich von einer Anfängerin zur Hochleistungssportlerin entwickelt. Mit Disziplin, Ehrgeiz und einer ganzen Menge Mut verfolgt die 22-Jährige ihre Träume.

Speed, lautes Geschrei, krachende Stühle und fliegende Bälle. Als Marie Kier zum ersten Mal bei einem Training des RSKV Tübingen zusehen darf, ist sie fasziniert. „Ich hatte davor ja keine Ahnung“, erinnert sich die 1,0 Punkte-Spielerin. „Da ging´s dann schon ganz schön ab. Dann musste ich bei meinem ersten Training auch mit da rein.“ Doch alles läuft gut und seitdem gibt es kein Zurück mehr: Kier ist sofort Feuer und Flamme. Sport war ihr schon immer wichtig, Basketball hat sie jedoch erst nach ihrem Unfall entdeckt. Die damals 19-Jährige war Turnerin, hatte mit Ballsport noch nichts am Hut. „Beim Turnen konzentrierst du dich auf dich und dein Gerät“, erzählt sie. „Dann sind da plötzlich neun weitere Spieler und noch ein Ball.“ Etwas ganz anderes.

Kier stürzt sich mit Eifer und Leidenschaft in den Sport und beeindruckt so bis heute ihren Trainer, der in ihr etwas ganz Besonderes sieht. „Ihre größte Stärke ist ihre Lernfähigkeit. Die ist wirklich außergewöhnlich“, meint Michael Engel, Trainer der RSB Thuringia Bulls. Er hat die junge Frau beim Deutschland-Cup 2019 zum ersten Mal spielen gesehen und Interesse an ihren Fähigkeiten gezeigt. „Im Sommer 2020 haben sie mir das Angebot gemacht, dass ich bei denen mittrainieren und Erfahrungen in der ersten Bundesliga sammeln könnte“, berichtet die 22-jährige Spielerin. Der Corona-bedingte Ausfall der zweiten Bundesliga und Onlinekurse der Universität ermöglichen es ihr, flexibel zu sein und nach Erfurt zu pendeln. So kann sie sich ausprobieren, kann sichergehen, dass es das ist, was sie sich vorstellt. Bereits nach einem Jahr mit den Bulls stellt Kier fest: „Ja, da möchte ich hin. Ich will den Schritt wagen.“

Vom Greenhorn zur festen Rotationsspielerin

Mit der Unterstützung ihrer Familie, Freunde und der Mannschaft zieht Kier von Tübingen nach Erfurt. Verlässt ihr bekanntes Umfeld, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. „Dazu gehört jede Menge Mut und das hebt sie sicherlich von vielen ab“, findet Trainer Engel. Das Risiko zahlt sich aus und Kier kann ihren Platz in der Mannschaft einnehmen. „Ich kenne niemanden, der innerhalb von zwei Jahren vom Rollstuhlbasketball-Greenhorn zur festen Rotationsspielerin in einer der besten Mannschaften Europas geworden ist“, lobt Engel die Basketballerin. „Das ist schon außergewöhnlich.“ Kier liebt die Abwechslung des Rollstuhlbasketballs, ihr Team gibt ihr Kraft und motiviert sie. „Die Mannschaft ist nicht ohne Grund so gut wie sie ist“, erzählt sie stolz.

Energie tanken, abschalten, auspowern. Sport gibt Kier schon immer viel, bringt ihr Abwechslung und die Möglichkeit, sich abzulenken. Als sie dann im Rollstuhl landet, zeigt ihr Basketball: Es ist möglich, immer noch Sport zu machen. „Das hat mir am Anfang viel Kraft gegeben“, so Kier. Ihre Mutter begleitet sie auf jedem Schritt ihrer Reise, ist stolz auf die Erfolge ihrer Tochter. „Marie hat ja schon immer Leistungssport betrieben und so war es schön, mitzuerleben, dass der Sport ihr nach dem Unfall wieder Halt geben konnte“, erzählt Mutter Kier. Lichtblicke, die ihrer Tochter helfen, sich im Rollstuhl zurechtzufinden. „Es hat mir gezeigt, es gibt keine Grenzen“, bemerkt die Spielerin. „Wenn man sich anstrengt, kann man auch was erreichen.“

Seit letztem Jahr wohnt Kier in Erfurt, trainiert bei den Bulls und studiert Humanmedizin in Jena. „Von Medizin wird nicht zu Unrecht gesagt, dass es einer der anstrengendsten Studiengänge ist“, merkt sie an. „Aber das ändert ja nichts – ich möchte Medizin studieren und Sport machen. Ich werde einen Weg finden.“ Der menschliche Körper fasziniert sie. Zu was er fähig ist und wie man ihn beeinflussen kann, um Menschen zu helfen.

„Immer wieder probieren“

Sie ist nicht allein. Ihre Familie und ihr Freund stehen hinter ihr, unterstützen sie dabei, Sport, Privatleben und Medizinstudium unter einen Hut zu bringen. Mit ihrer Mutter kann sie reden, wenn es mal schwierige Zeiten gibt, aber auch nach den Höhepunkten. „Als Sparringspartnerin versuche ich Marie bei Motivationsschwierigkeiten, Rückschlägen oder anstehenden Entscheidungen zu unterstützen“, zählt Mutter Kier auf. Feste Trainings- und Stundenpläne helfen ihrer Tochter dabei, ihren Alltag zu strukturieren. An schlechten Tagen ganz besonders. „Es ist dann zwar ein bisschen anstrengender als sonst, aber wenn man mal angefangen hat, ist immer wieder die Motivation da“, meint Kier. „Immer wieder probieren.“ Das ist ihre Devise und sie weiß, dass es dann irgendwann wieder besser wird. „Dadurch habe ich nicht so viele schlechte Tage“, erzählt sie.

Der volle Terminkalender steht gemeinsamer Zeit mit der Familie oder mit Freunden öfter im Weg. Die Familie trifft sich meist zu festen Terminen wie Geburtstagen oder Feiertagen, plant ihre Treffen um Kiers Spiele herum. „Für mein Mutterherz könnte es natürlich mehr Zeit sein“, räumt Mutter Kier ein. „Aber wie heißt es so schön? Qualität vor Quantität und ich denke, das bekommen wir gut hin.“ Ihre Tochter schaufelt sich im Alltag Zeit für sich frei, trifft sich mit Freunden, schaut ab und zu einen Film. „Bestimmt würde ich es mir gerne öfter ermöglichen, aber andersherum geht dann auch nicht mehr“, stellt die Sportlerin fest.


Marie Kier im Dress des Team Germany – Foto: Max Priess


Disziplin und Wissbegierde helfen Kier dabei, über sich hinauszuwachsen und immer dabei zu bleiben. „Ich gebe mich nicht schnell geschlagen“, berichtet die 1,0 Punkte-Frau. Ihr Trainer bei den RSB Thuringia Bulls sieht das ähnlich. Er und die Mannschaft schätzen Kiers Durchhaltevermögen, ihren Ehrgeiz und die Bereitschaft, stets an sich zu arbeiten und besser zu werden. „Ich denke, das sehen hier alle, dass Marie das probiert und von daher ist sie sehr respektiert“, so Engel. Das wichtigste in einer Mannschaft sei Offenheit und Kommunikation und Kier habe sich von Anfang an ohne Schwierigkeiten in das Team integriert. „Marie ist ein sehr offener Mensch, ein sehr kommunikativer Mensch. Da war relativ schnell das Eis gebrochen“, erinnert Engel sich an Kiers Anfangszeit bei den Bulls.

Heute gehört die junge Frau zu den Perspektivspielern der Mannschaft. Eine Rolle, die sie laut ihrem Trainer jeden Tag mit großem Ehrgeiz annimmt. „Wir probieren, sie Tag für Tag an das Weltklasse-Niveau heranzuführen“, erklärt Engel. Dazu gehört auch, Defizite in Stärken zu verwandeln. „Sie ist sehr ungeduldig, aber das kann man auch wieder als Stärke auslegen“, findet ihr Trainer. „Sie hat in den letzten zwei Jahren eine tolle Entwicklung gemacht und die Zeit ist auf ihrer Seite.“

„The sky is the limit“

Wenn die Rollstuhlbasketballerin auf ihren Weg zurückblickt, würde sie gern weniger an sich zweifeln. Mehr an sich selbst glauben und darauf vertrauen, den richtigen Weg zu finden. „Manchmal einfach auf den Bauch hören“, ermahnt sie sich selbst. „Dann wird schon alles gut.“ Mit ihrem Selbstvertrauen hat sie es nach Erfurt geschafft, doch es soll noch immer weiter gehen. Ihre Unterstützer stehen fest hinter ihr. „Seit sie angefangen hat, hat sie sich enorm entwickelt“, berichtet Trainer Engel. „The sky is the limit ist ja immer das schöne Wort der Amerikaner. Am Ende des Tages entscheidet Marie selbst darüber, in welche Richtung das geht.“ Er ist sich sicher, dass Marie ihren Weg gehen wird.

Kier selbst erzählt: „Ich würde es auf jeden Fall gerne irgendwann mal in die Nationalmannschaft schaffen und dann schauen, was da möglich ist.“ Sie will nicht aufhören zu träumen.

 

Text: Rebecca Ostertag | Foto: Max Priess

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