Aus. Ende. Vorbei. Die Corona-Saison fand am Samstagabend in der Rittal Arena zu Wetzlar ihren Abschluss. Mit der Krönung der Thuringia Bulls zum nationalen Champion endete eine ereignisreiche Spielzeit, die vielen Fans in Erinnerung bleiben wird.

Da waren Mannschaften, die in der Hinrunde nicht teilnahmen, in der Rückrunde jedoch starteten. Teams, die Vorrunden-Partien in der Rückrunde nachholten. Vereine, die die Rückrunde nicht spielten. Fans, die aufgrund der Pandemie nicht in die Halle durften. Nationalmannschaften, die sich digital trafen. Spieler und Spielerinnen, die nicht spielten. Zwei deutsche Top-Teams, die sich ein ewig junges Duell lieferten. Eine exzellent organisierte Champions-Cup-Endrunde in Mittelhessen. Untere Ligen, die zum Zuschauen verdammt waren. Vereine, Verantwortliche, Schiedsrichter, Fotografen, Kommentatoren, Medienvertreter und Ehrenamtler, die alles gaben, um den Spielbetrieb zu wuppen. Menschen, die die Fans an die sprichwörtliche Hand nahmen. Turnier-, Pokal- und Spielabsagen auf internationaler und nationaler Ebene. Geistige und mentale Flexibilität aller Beteiligten, aufgrund sich ständig ändernder Rahmenbedingungen. Und und und. Es kann und wird besser werden.

Die zurückliegenden Monate haben den Hunger aller Fans wachsen lassen. Die Rollstuhlbasketball-Community hat eine wahre Herkules-Aufgabe gemanagt und ist bei aller Rivalität zusammengewachsen. Am Samstag wurde mir persönlich wieder bewusst, für was dieser Sport steht. Es war der Moment, als ein Steve Serio im RSV-Dress einer Jitske Visser per Anschubhilfe wieder auf die Rollen und Räder half. Das ist Rollstuhlbasketball-DNA. Das sind Werte und Augenblicke, die mir immer wieder zeigen, was unser Sport verkörpert. Selbstverständlicher Respekt vor dem Gegenüber. Männer und Frauen sowie Jung und Alt begegnen sich auf Augenhöhe. Sportsgeist, Fairness und gegenseitige Achtung. Davon können sich andere Sportarten, insbesondere der Profi-Fußball, eine dicke Scheibe abschneiden. Das ist es auch, was mich an die Energie, das Wachstumspotenzial und die Kraft unserer Sportart glauben lässt. All das, was Politiker und Vordenker in unserer Republik fordern, wird im Rollstuhlbasketball seit Jahren gelebt. Doch darauf darf sich der Sport nicht ausruhen. Alles in unserer Welt entwickelt sich. Stillstand ist Rückschritt. Rollstuhlbasketball ist schon lange kein reiner Rehasport mehr. Diejenigen, die glauben, dass Fußgänger den Rollstuhlfahrern ihre Sportart klauen, haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Ich habe letzte Woche mit einem Psychologen an einem der größten Querschnittszentren der Republik gesprochen. In Deutschland gibt es pro Jahr zwischen 2.000 und 2.500 neue Querschnittsgelähmte. Die Zahl bleibt konstant. Was sich geändert hat sind die Querschnittslähmung verursachenden Umstände. Waren dies vor dreißig, vierzig Jahren zu 90% traumatische Ereignisse (Unfälle im Straßenverkehr etc.), sind es heutzutage zu 50% Operationen, Erkrankungen etc.  Was bei allen Rollstuhlbasketball-Verantwortlichen die Alarmglocken läuten lassen sollte ist das Durchschnittsalter, mit denen ein Mensch heutztage im Rolli landet. Es beträgt 60 (!) Jahre. 75% bzw. zwei Drittel sind übrigens Männer. Das Potenzial an jugendlichen Nachwuchshoffnungen, wie ein Lukas Gloßner, eine Lilly Sellak, eine Marie Kier und ein Nikolai Sommer, die in jungen Jahren im Rollstuhl „landen“ bzw. aufgrund ihres Unfalls Rollstuhlbasketball spielen können, wird nicht größer. „Schlimmer noch“: es wird eher kleiner. Das ist aus humanistischer Sicht nur zu bejubeln. Es bringt den Sport aber in eine Bredouille, die jetzt schon bei der U25 Damen-Nationalmannschaft und in den unteren Ligen erkennbar ist. Es fehlt an Nachwuchs. Und es mangelt an für die Außenwelt erkennbaren Konzepten, wie der Sport diesem Dillema begegnet. Andere Rollstuhlsportarten schlafen nicht. Kleiner Einschub an dieser Stelle: In Deutschland werden lt. ARQUE 6 bis 12 von 10.000 (0,6 – 1,2 %) Menschen mit einer Spina bifida geboren. Der Kampf um den jungen Rollifahrer ist schon längst entfacht. Die Brandherde in den unteren Ligen lodern. Und genau dieses Lodern muss – gemeinschaftlich – nach und nach erstickt werden, um den Rollstuhlbasketball nicht nur zu verwalten, sondern ihn aufs nächste Level zu heben. Wie soll das gehen?

Wie heißt es so schön: Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Die Hilferufe der Basis müssen gehört und ernst genommen werden. Es muss zwischen den Zeilen gelesen werden. Nur ein funktionierender Unterbau liefert der RBBL und dem Team Germany das Spielermaterial, das notwendig ist, um auch in Zukunft eine (internationale) Rolle zu spielen. Während die eine Seite eine eingleisige RBBL2 befürwortet, wird sie von anderen verteufelt. Wo liegt die Wahrheit? Wo werden Probleme kaschiert? Wo Probleme gelöst? Was wiegt mit Blick auf die Zukunft mehr? Die Frage, die über allem stehen muss, lautet: Was bringt den Rollstuhlbasketball weiter? Und nicht: Was bringt es meinem Verein und meinen Partikularinteressen? Oder: Wie löse ich ein vermeintliches Problem am schnellsten.

Unterklassige Klubs sollten sich die Topvereine zum Vorbild nehmen und ihre Strukturen nach und nach professionalisieren. Ich höre schon den Aufschrei: „Professionalisierung – ich kann es nicht mehr hören.“ Oder: „Wie soll das gehen!“. Simple Antwort: einfach machen. Wo ein Wille, da ein Weg. Schiebt die durchaus berechtigten Ausreden beiseite und krempelt die Ärmel hoch. Ich bin seit über sieben Jahren Engagementberater beim Deutschen Basketball-Bund und habe viele Basketballvereine, Manager, Ehrenamtler und Trainer kennen gelernt und beraten. Es gibt die Klubs, die wollen. Und es gibt die Klubs, die Ausreden suchen und Umstände für ihre Untätigkeit veantwortlich machen. Zu welcher Kaste gehört dein Verein? Und bitte sei ehrlich zu dir selbst.

Vernetzung mit dem Fußgänger-Basketball. Warum trainiert ein verletzter Fußgänger-Basketballer nicht in einem Sportrollstuhl am Nebenkorb mit? Freiwürfe kann ich auch im Sitzen werfen. Warum kommen verletzte und „nicht mehr einsetzbare“ Fußgänger-Basketballer durch Zufall zum Rollibasketball? Werfen geht, die Regeln sind bekannt – es mangelt nur an den Chairskills. Welch ein basketballerischer Potenzialverlust.

„Martin, du musst die positiven Seiten unseres Sports aufzeigen“ oder „Martin, sei nicht so kritisch“. Diese oder ähnliche Sätze werden mir an der einen oder anderen Stelle gerne mal zugetragen. Sie mögen ihre Berechtigung haben. Wärme und Energie entsteht jedoch nur durch Reibung. Beim Kuscheln entsteht zwar auch Wärme, Fortschritt benötigt m. M. n. aber den Diskurs, die konstruktive Diskussion, eine professionelle Streitkultur und unterschiedliche Sichtweisen. Ich persönlich freue mich auf die nächsten Jahre. Hindernisse, Hürden und Probleme bieten dem Rollstuhlbasketball die Chance, zu wachsen.

Ich möchte meine Saison-Abschlusszeilen mit einer Aussage von BMW-Chef Oliver Zipse schließen (manager magazin 05/2021, S. 58) , die ich mir fett markiert habe, die sich in mein Hirn gebrannt hat und die für mich sehr viel Substanz besitzt:

Herr Zipse, […] Warum sind Kooperationen im Autogeschäft so schwierig?

So schwierig sind die eigentlich nicht […] Angesichts der großen Veränderungen in unserer Branche braucht es sogar eine neue Offenheit – einen Schulterschluss bei Zukunftsfeldern […] Mein Appell an alle Hersteller: Der Wettbewerb untereinander macht jeden Einzelnen von uns besser – aber mit einem neuen Mindset der Zusammenarbeit können wir unsere Branche als Ganzes erfolgreicher machen.

 

Text: Martin Schenk | Foto: Markus Binda

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