Zum wichtigsten Selbstmarketing einer populären und professionell betriebenen Sportart gehört die „Nachwuchsarbeit“. Sich bewusst machen, wie man aktuell neue Sportler aufbaut, wie man dies zukünftig tun will und was am Ende der messbare Ertrag sein soll – das ist der Sinn und Zweck von Sportförderungs- und Leistungssportkonzepten. Nur: So wirklich eindeutig ist das im Rollstuhlbasketball gar nicht. Ich will mit Euch heute ein bisschen über die Nachwuchsförderung sinnieren.
Auf den ersten Blick sieht das wie eine Erfolgsgeschichte aus: Aus Talenten wie Thomas Böhme, André Bienek, Annika Zeyen oder Mareike Adermann sind in den letzten zehn Jahren international anerkannte Stars gereift. Wir haben in Deutschland inzwischen Förderstrukturen, deren Wachstum ich in den fünfzehn Jahre, die ich mich als Funktionär mit Rollstuhlbasketball befasse, noch von „null“ wachsen sehen konnte. Es funktioniert, unsere U23-Junioren sind Weltmeister, der Damen-A-Kader hat – auch mit Talenten aus dem Nachwuchsprogramm – Paralympics-Gold gewonnen. Alles gut, könnte man sagen, und ich denke, wir sind weit gekommen. Der Laie stellt sich vor, dass talentierte Rollstuhlbasketballer in die U10, dann die U14, dann die U16, dann die U18 gehen – und genau da hört es auf – Nachwuchsförderung im Rollstuhlbasketball, in der Breite wie in der Spitze, ist ein bisschen anders als in anderen Sportarten.
Beispiel gefällig? Vor wenigen Wochen hatten wir in der 2. Bundesliga ein interessantes Debüt eines Nachwuchsakteurs – nicht einmal schlecht, sein erster Zweitliga-Einsatz, nur dürfte man ihn eher für einen reaktivierten Opa halten, denn da, wo auf dem Kopf noch Haare wachsen, hatten sie schon einiges an Zeit, um eine silbergraue Patina anzusetzen.
Der Weg von Menschen in unseren Sport ist selten geradlinig, sieht man von den Akteuren ab, die von Geburt an mit dem Rollstuhl leben. Und das sind mitnichten nur Menschen mit einer Behinderung, sondern auch solche wie Dirk Passiwan, für den der Rollstuhl zeit seines Lebens ein ganz normales Sportgerät war. Das ist die einzige Gruppe, die für ein altersgestuftes Förderprogramm in Frage kommt. Alle anderen kommen auf den verwinkelten Pfaden des Lebens zu uns.
Ein großer Teil kommt – zumindest in der umfassenderen Lebensplanung – eher unfreiwillig zu uns. Wenn mit Personen außerhalb der „Szene“ redet, fange ich meist mit einem Satz wie „Über den größeren Teil des Nachwuchses können wir uns nicht so richtig freuen“ als Eisbrecher an. Das stimmt natürlich nicht ganz, denn gerade mit den ganz salopp gesagt „Kaputt-Gegangenen“ aller Art erlebt man als Trainer die herausragendsten Erfolgsgeschichten. Die jüngsten Neuzugänge in diesem Kreis, die es nach ganz oben geschafft haben, sind Niklas Neuroth (Hamburg), Marcus Kietzer (Jena) oder aus meinem Kader Selina Rausch, die alle noch vor Kurzem keine Idee hatten, wie viel Platz Rollstuhlbasketball in ihrem Leben einmal einnehmen würde. Nachwuchsförderung bedeutet hier auch, mit Erwachsenen einen komplett neuen Sport, aber auch ein komplett verändertes Leben aufzubauen – diese soziale Komponente darf man selbst im Leistungssport nicht vergessen. Jedenfalls ist klar: Dieser „Nachwuchs“ kommt irgendwann im Leben, vielleicht auch erst mit 50, zu uns. Sportlich muss er bei uns mit der „Grundschule“ anfangen, wo er in anderen Sportarten bereit bei den „Alten Herren“ ausgemustert würde.
Die letzte große Gruppe ist ein Paradox, das unsere Sportart so einzigartig macht. Wir haben ja die Leute, die in ihrem Leben nie etwas anderes als den Rollstuhl gekannt haben, und die, die eigentlich einen anderen Plan als lebenslang Rollstuhl oder Prothese hatten. Und dann haben wir eine ganze Menge Aktive, die einfach Spaß am Rollstuhlsport haben, ohne irgendeine Behinderung zu haben: 20-25% aller Spieler sind das, über den Daumen gepeilt. Die können wir zwar als Spieler ausbilden und fördern, aber die Kette „von der Einsteigerin zur Nationalspielerin“ kann hier nicht funktionieren, weil der Spitzensport im Leistungskader „Behindertensport“ ist. Also ausschließlich für Menschen mit einer Behinderung.
Alles zusammengenommen schafft für Trainer relativ interessante Rahmenbedingungen. Die erste ist: Wir haben in der Regel keine altershomogenen Mannschaften, denn jeder durchläuft die „Grundschule“ bei uns erst, wenn er zu uns kommt. Das kann im Alter von 8 Jahren für Kinder mit angeborener Behinderung sein, aber auch erst mit 54 beim Fan, der es unbedingt auch mal ausprobieren will. Ein paar breitensportliche Aktivitäten gibt es zwar mit dem Jugend-Meyra-Cup und Ü40- und Ü50-Turnieren. Wirklich spannend finde ich auch die Projekte, mit ausschließlich oder überwiegend altershomgenen Teams im Senioren-Spielbetrieb zu starten, wie es die Mainhatten Skywheelers oder die Trier Dolphins in Angriff genommen haben. Aber im der breiten Fläche gilt, dass im Alltag unsere Talente sich nicht „unter einander“ entwickeln können, sondern eigentlich immer im Wettstreit mit Erwachsenen sind. Das kann man gut oder schlecht finden, es ist einfach Fakt und aufgrund der sehr begrenzten Zahl junger Spieler und Spielerinnen einfach nicht anders zu machen. Seit zwei Jahren haben wir einen Bonuspunkt für Spieler unter 18 Jahren eingeführt – das ist ein erster Schritt, den Konkurrenzdruck gegen Erwachsene für Nachwuchsspieler im Jugendalter abzufangen.
Mit den Jugendsichtungscamps, den „Try Outs“ (www.bemagic.de), den Landeskadern und den sich daraus entwickelnden Kader-Teams (U19-Mixed, U22/U23-Herren und U25-Frauen) haben wir zumindest in Grundzügen altershomogene Leistungsförderungsmaßnahmen.
Der zweite Punkte ist etwas schwieriger zu verstehen und sehr komplex: Unsere „neuen“ Rollstuhlbasketballer kommen überwiegend mit extrem unterschiedlichen Bedürfnissen und Vorerfahrungen zu uns. Rollstuhlbasketball ist zudem ein Sport, bei dem man extrem schnell „mitmachen“ kann, ohne aber wirklich kompetent „Rollstuhlbasketball“ zu spielen. Besonders bei großen, wenig bis nicht behinderten Spielern, wie auch bei Lowpointern ist die Verlockung, diesen rollenden „Jokern“ nur das absolut Nötigste für das Spiel beizubringen und sie ansonsten einfach machen zu lassen, sehr groß. Die „Kleinen“ braucht man nur als „Arbeiter“, die „Großen“ nur am Brett – da hört die Förderung oft schon auf, und schon haben wir aus interessierten und begabten Neulingen schlechte bis mittelmäßige Spieler mit überschaubaren Kompetenzen geformt.
Nur zum Verständnis: Die besten Resultate habe ich mit Spielerinnen und Spielern beobachtet, die selbst relativ und relativ frisch im Sport unmittelbar im Wettkampf mit Erwachsenen und „alten Hasen“ sind. Wir müssen aber aufpassen, Spieler dennoch nicht rein pragmatisch auszubilden – der Gedanke einer „Rollstuhlbasketball-Grundschule“ darf nicht in den Hintergrund treten, selbst wenn unsere „Grundschüler“ oft sehr früh teils hochklassig spielen, schnell durch die Nationalmannschaftskader wandern und mit Lob, Ehre und Titeln bedacht werden. Rollstuhlbasketball hat sich qualitativ so enorm verändert, dass wir heute auf allen Positionen Spieler und Spielerinnen brauchen, die gleichermaßen mit dem Ball umgehen können, ihre Mitspieler durch Partnerhilfen und Two-Men-Games unterstützen oder selbst aktive und kreative Schlüsselspieler sein können.
Zugegeben, jetzt bin ich sprichwörtlich vom „Hölzchen zum Stöckchen“ gekommen. Von der „institutionellen Nachwuchsarbeit“ zum Detail in den Vereinen. Aber das gehört für mich einfach zusammen: Jeder paralympische Trainingsstützpunkt bringt uns kein Stück weiter, wenn wir „an der Basis“ nicht wirklich die Grundlagen legen. Ich gebe offen zu, dass ich mich ärgere, wenn fortgeschrittene Spieler an fehlenden Basics scheitern. Und weil ich mich ungern unproduktiv ärgere, versuche ich als Trainer dieses Problem anzugehen. Euch als Leser habe ich glaube ich auf meiner Seite, trotzdem müssen wir diesen Geist glaube ich noch viel intensiver in die Sporthallen tragen.
Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.” %CODE1%
Fotos: Craig Screiner / Andreas Joneck / Team Germany