Interview mit Nicolai Zeltinger: „Wir haben dieses Jahr in vielen Bereichen Fortschritte gemacht.“

Im ersten Interview nach der Paralympics-Qualifikation für Tokio rekapituliert Herren-Bundestrainer Nicolai Zeltinger die EM in Polen und die Partien gegen die Türkei und Spanien. Ferner spricht der 47-Jährige über die starke Leistung eines Chris Hubers, die verbesserte Athletik seiner Equipe sowie die Größe seines Betreuerstabs.

 

Nic, mit etwas Abstand betrachtet: Wie beurteilst du das Abschneiden deiner Mannschaft bei der EM?

„Wir haben ein großes Ziel erreicht. Das war die Qualifikation für Tokio 2020. Wir haben ebenfalls gezeigt, dass wir mit allen Teams mitspielen können. Dennoch waren uns die Teams aus GB, Spanien und der Türkei überlegen. Insbesondere die ersten beiden haben sich positiv entwickelt. Auch wir haben uns verbessert, sonst hätten wir die Mannschaften aus Polen und Italien nicht abhängen können. Das waren jeweils sehr schwierige Spiele und sehr wichtige Siege. Den Niederländern haben wir im Viertelfinale von Beginn an gezeigt, wie sehr wir diesen Sieg wollten.“

 

In welchen Bereichen hat sich das Team seit der Heim-WM in Hamburg verbessert? Wo siehst du die Fortschritte?

„Wir haben im Bereich der Trefferquote und der Passqualität gut zugelegt. Ebenso haben wir unsere Athletik verbessert.“

 

Hand aufs Herz: Wäre in den Spielen gegen die Spanier im Halbfinale und gegen die Türken im Bronze-Match nicht mehr drin gewesen?

„Wir sind mit der Strategie durch das Turnier gegangen, von Spiel zu Spiel zu denken. Nach dem Einzug ins Halbfinale und der damit einhergehenden Paralympics-Qualifikation hat die Mannschaft hervorragend reagiert und nicht gefeiert, sondern Schwächen und Stärken analysiert und den Fokus ganz auf Spanien gerichtet. Wir hatten einen guten Gameplan. Leider fanden unserer offenen Würfe zu Beginn der Partie gegen Spanien nicht ihr Ziel. Das waren die Würfe, die wir wollten. Denn aufgrund der Größe der Spanier ist es nicht so ratsam, zu tief in der Zone seine Würfe zu suchen. Dadurch lagen wir früh mit knapp zehn Punkten zurück und konnten trotz intensivem Kampf nie die Führung zurückgewinnen.“

 

Und das Spiel um Platz drei?

„Gegen die Türken haben wir hingegen stark begonnen. Aber die Türken hatten schon bei ihrem Halbfinalspiel gegen GB gezeigt, wie stark sie spielen können. Die Türken haben viele Waffen, und sie haben ein paar Unkonzentriertheiten in unserer Verteidigung gnadenlos ausgenutzt. Auch hier kann ich den Kampf und den Einsatz unserer Mannschaft nur loben. Aber wir habe mehr schlechte Entscheidungen getroffen als die Türken und damit folgerichtig verloren.

 

Die Rahmenbedingungen professionalisieren sich zunehmend. Du hast ein Staff von elf Leuten, die dich bei deiner Arbeit unterstützen. Das Team Germany der Damen hat acht Leute im Staff, die beiden GB-Teams und die spanischen Männer ebenfalls, während die Österreicher mit sieben Leuten und die Argentinier mit fünf Staff-Mitgliedern auskommen. Kannst kurz erläutern worin die Größe des “Staff-Apparats” begründet liegt – insbesondere vor dem Hintergrund, dass andere Nationen oder auch die Damen mit weniger “Personal” auskommen?

„Nun ich bin überrascht wie du an solche Zahlen kommst (Anm. d. Red.: Unsere Zahlen sind am Ende des Interviews aufgeführt). In Großbritannien sind 30 bis 40 Hauptamtliche in die Arbeit des Rollstuhlbasketballs involviert. Wer dort wann für die Nationalmannschaft arbeitet, kann ich selbst nicht überschauen, aber sicherlich hat keine Nation eine stärkere Personaldecke als GB. Wir bemühen uns in allen Feldern, die bestmöglichen Rahmenbedingungen für unsere Athleten aufzustellen, damit sie Ihre Leistungen erbringen können. Da gehört eine professionelle Betreuung dazu.“

 

Was muss deiner Meinung in der Struktur, also dem Verband, der Liga etc. passieren, dass die Herren noch stärker ins Geschehen um die vorderen Ränge eingreifen?

„Wir reden seit Jahren davon eine verpflichtende Anzahl deutscher Spieler auf dem Spielfeld in der Bundesliga zu haben. Doch es geht nicht voran. Derzeit bringt die deutsche Liga viel Geld auf, um Spieler zu bezahlen. Doch insbesondere werden damit ausländische Spieler bezahlt. Eine Förderung deutscher Spieler würde bedeuten, dass diese begehrter werden. Somit können sie mehr Geld verdienen, können deutlich professioneller trainieren und mehr Verantwortung übernehmen. Um dann gute Rotationen im Team zu haben, muss jede Mannschaft weitere deutsche Spieler fördern, um im Falle von Verletzungen oder Krankheiten ausreichend besetzt zu sein. Sprich alle Bundesligisten müssen sich, wie im Fußgängerbasketball vorgeschrieben, um den Nachwuchs kümmern. Auch das würde dem deutschen Rollstuhlbasketball sehr dienlich sein. Im Bereich des Verbands können wir sicherlich noch viele Verbesserungen bewirken, die, wenn auch indirekt, der Nationalmannschaft zu Gute kommen werden.“

 

Sei doch so nett und nenn’ mir aus dem Stegreif drei Sachverhalte in der deutschen Rollstuhlbasketball-Szene, die du als sehr positiv empfunden hast bzw. Ergebnisse, die den Sport weiter pushen werden?

„Erstens: Die IWBF Europe hat beschlossen, dass es eine U19-Europameisterschaft geben wird. Zweitens: Die breite Unterstützung der Nationalmannschaft. Und Drittens: Die Leistungssportreform in Deutschland, die unter anderem dazu geführt hat, dass unserer Nationalmannschaftsspieler eine gute finanzielle Förderung erhalten.“

 

Mit einem Augenzwinkern: Wenn du mit Janet am Frühstückstisch über Basketball sprichst und ihr auf einen Chris Huber zu sprechen kommt, der eine phänomenale EM gespielt hat. Welche Sichtweisen resp. Trainer-Philosophien werden dann ausgetauscht? Insbesondere vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Huber’schen Spielzeit in Wetzlar und in der Nationalmannschaft.

„Janet und ich wissen beide was für ein starker 1,0-Punktespieler Chris Huber ist. Es freut mich, dass du das ebenfalls so siehst. Er hat eine ganz starke EM gespielt. Ich würde sogar sagen, die beste Meisterschaft, die er je gespielt hat. Es gibt in unserem Sport etwas sehr Gutes, aber auch sehr Brutales. Das ist das Klassifizierungssystem. Anders als im Fußgängerbasketball, wo man viele Spieler für- und untereinander wechseln kann, ist das im Rollstuhlbasketball nur beschränkt möglich. Sprich, ein Spieler kann sich nur dann empfehlen, wenn seine Line-ups funktionieren. Dies hängt allerdings nur zu maximal 1/5 von ihm direkt ab. Die Effektivität der Line-ups ist in den Statistiken leicht ersichtlich. Chris hat bei der Nationalmannschaft immer eine führende Position in den Rankings mit seinen Line-ups gehabt. Daher hat er auch so viel gespielt.“

 

Wie sehen deine persönlichen Entwicklungspläne für das Team Germany aus? Wo möchtest du mit der Mannschaft hin?

„Wir haben dieses Jahr in vielen Bereichen Fortschritte gemacht. Unsere Mitbewerber jedoch ebenfalls. Ich persönlich will immer, dass meine Mannschaft auf dem Podest landet.“

 

Abschlussfrage: Wenn ich dir drei Wünsche in Bezug auf die Entwicklung des Rollstuhlbasketballs hierzulande erfüllen könnte, welche würdest du mir nennen?

Das wären: Eine intensivere Förderung des jungen Nachwuchses. Die Ausbildung und Betreuung von vielen und guten Coaches. Und der verpflichtende Einsatz von zwei deutschen Spielern pro Mannschaft auf dem Spielfeld. Und natürlich wünsche ich mir, dass wir in der öffentlichen Wahrnehmung besser werden.“

 

Vielen Dank für deine Zeit, Nic.

 

Anmerkungen zu den in der fünften Frage genannten “Betreuer-Zahlen”

Im Laufe der EM in Polen haben wir uns bei diversen Teambetreuern oder – wie im Falle des Team Germanys – aus frei zugänglichen Pressemeldungen über die Stärke des direkt der Nationalmannschaft zurechenbaren Betreuerstabs informiert. Die uns vorliegende Informationen findet ihr anbei:

Deutschland Herren: 11 | Bundestrainer Nicolai Zeltinger, Athletiktrainer Dirk Lösel, Physiotherapeutin Cornelia Freitag und Techniker René Dietsch, Co-Trainer Martin Kluck und Paul Bowes, Teammanager Eike Gößling (Vertrat bei der EM Moritz Weith), Mannschaftsarzt Dr. Sascha Kluge, Physiotherapeutin Lena Weins, Sportpsychologin Dafni Bouzikou und Videoanalyst Björn Lohmann

GB Herren: 8 | Head Coach: Haj Bhania, Assistant Coach: Steve Caine, Team Manager: Simon Fisher, Physiotherapist: Charlie Steggles, Performance Analyst: Nathan Payne, Head of Performance: Jayne Ellis, CEO Lisa Pearce, GB Matsunaga Mechanic: Jimbo Yasuhiro

GB Damen: 8 | Head Coach: Miles Thompson, Assistant Coach: Dan Price Team Manager: Tara Smith, Physiotherapist: Laura Heathcote, Performance Analyst: Nathan Payne, Head of Performance: Jayne Ellis, CEO Lisa Pearce, GB Matsunaga Mechanic: Jimbo Yasuhiro

Deutschland Damen: 8 | Head Coach Martin Otto, Co-Trainerin Janet McLachlan, Teammanager Andreas Ebertz, Physiotherapeutin Julia Erhard und Stefan Kremer, Mannschaftsarzt Claude Weynandt, Techniker Dennis Nohl, Teambetreuerin Silke Otto

Spanien Herren*: 8 | Técnicos/Coach: Òscar Trigo, Javi López, Xavi Carvajal, Franck Belen, Fran Rosa, Diego Cabadas, Miguel Buil, Raúl Elia Hi.

Österreich Herren*: 7 | Coach Malik Abes, Ass. Coach Andreas Zankl, Physio Iris Schwarz, Physio Esther Jascha, Mechaniker Jasmin Zorec, Mentalcoach Sandra Schmid, Team Manager Astrid Berger

Argentinien Frauen*: 5 & Männer*: 6

* = Angaben der Teammanager

 

Interview: Martin Schenk | Foto: Steffie Wunderl

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