Ob die kanadischen Gründungsväter vor über 40 Jahren ahnten, was aus der damaligen Sportart “Murderball” heute entstanden ist? Ich glaube nicht!
Hochquerschnittgelähmte die den schweren Basketball nicht in den Korb werfen konnten, erfanden Ihre ganz eigene Sportart, welche eine unglaubliche weltweite Dynamik entwickelt hat. Man muss einen Volleyball über die gegnerische Torlinie fahren, das ist das Ziel. 4 Spieler greifen an und 4 verteidigen und das mit allen Mitteln. Der spezielle Unterschied zu jeder anderen Sportart im Rollstuhl, ist der Kontakt. Man darf den gegnerischen Rollstuhl rammen, blockieren, umwerfen – alles ganz legal. Nur den gegnerischen Spieler darf man nicht berühren, das ist ein Foul und wird mit einer Minute Strafzeit oder Ballbesitzverlust geahndet.
Was früher mit Alltagsrollstühlen und zarten Berührungen begann, entwickelte sich heute zu einer ungeahnten Materialschlacht. Gerade mal zehn Hersteller weltweit trauen sich zu, diese Sportgeräte zu bauen und auch hier gibt es qualitativ hohe Unterschiede. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Spezialbauten, auf jeden Spieler individuell angepasst, bis zu 10.000 Euro kosten. Lieferbar sind zwei Modelvarianten, die offensiven und die defensiven Rugbystühle.
Um in jeder Mannschaft eine Chancengleichheit zu garantieren, wird jeder Spieler klassifiziert und einer Klasse zugeordnet. Diese beginnt bei 0,5 – den am schwersten eingeschränkten Spielern und geht in 0,5 Punkte Schritten bis 3,5. Den 0,5-1,5 Punkten Spielern werden zumeist die defensiv Variante zugeteilt um den eigenen High Pointern den Weg freizusperren. 3,5 Punkte Spieler waren früher zumeist inkomplett Querschnittgelähmte mit guter Arm und Fingerfunktion und etwas verbliebener Rumpfstabilität. Früher wie heute bestimmen die am wenigsten eingeschränkten Athleten das Spiel. Heute kann eine Mannschaft international nur bestehen, wenn Sie einen 3,5 Punkte Spieler mit einer Amputation oder einen Spieler mit Verbrennungen in Ihren Reihen hat. Statistisch sind dies weltweit nur 4% aller Rugbyspieler. Tatsächlich standen sich im WM Finale 2014 zwei Teams aus Australien und Canada gegenüber, die 3 dieser überragenden Spieler stellten. Australien spielt mit Ryley Batt (3,5), Chris Bond (3,5) und zwei 0,5 Punkten Spielern ein sogenanntes High Low Setup, genau wie Canada, wo Zak Madell (3,5) und Ian Chan (2,5) die Fäden ziehen. Die europäischen Teams (außer Großbritanien) die keine Anderstbehinderten in Ihren Reihen haben, sind im weltweiten Vergleich chancenlos und abgeschlagen. Die Nationalmannschaft wurde mit einem sehr bescheidenen Budget Elfter von Zwölf. Nur zwei Trainingslehrgänge und ein Europäisches Turnier zur WM Vorbereitung ist eher Kreisklasse als Weltklasse.
Schauen wir bewundernd nach England, wo der Hype nach London 2012 weiter anhält, so ist es nicht verwunderlich, dass in einem Jahr von 5 Clubteams auf 13 Clubteams aufgestockt wurde. Den Briten steht für die National
mannschaft in dem 4-jährigen Olympia Zyklus bis RIO 2016, 4 Millionen Pfund zur Verfügung. Dem Development, also der Nachwuchsabteilung stehen 3 Millionen Pfund zur Verfügung. Alleine der Chefcoach verdient 80.000 Pfund pro Jahr. Die Gelder werden von der Lotterie zur Verfügung gestellt. In Deutschland sind 350 Spielerinnen (ca. 40) und Spieler gemeinsam aktiv und 95% davon sind querschnittgelähmt. Es wird in 4 Ligen, von der internationalen Champions League bis zur Regionalliga mit insgesamt 37 Teams gespielt. Dennoch sind wir von einer Flächendeckung meilenweit entfernt. Trainer -und Schiedsrichterausbildung sind vorbildlich und haben jeweils einen eigenen Ausschuss in der Vorstandschaft. Seit 2012 wird vermehrt das Augenmerk auf den Nachwuchs gelegt und eine erfolgreiche TRY OUT Serie gestartet. Hier besteht die Problematik, dass gefundene und erfasste Interessierte nicht immer an einen Verein vermittelt werden können, da es kein Trainingsangebot in unmittelbarer Nähe und hier reden wir von bis zu 100 km, gibt. Dennoch hat sich die Sportart in Deutschland etabliert und bietet Schwerstbehinderten nicht nur ein einzigartiges Spielerlebnis, sie dient auch zum Erfahrungsaustausch und einem geselligen Miteinander.
Text: Heiko Striehl | Foto: Uli Gasper (www.uliphoto.de)