Zugegeben, wenn wir tief in uns hinein hören, hat sich jeder von uns diese Frage schon einmal selbst gestellt. Egal ob zwischen Reisenden, zwischen Liebenden oder zwischen Clowns. Vielleicht hat der ein oder andere sie in einem tief romantischen Moment der Zweisamkeit dem auserwählten Partner seiner Wahl auch ins Ohr geflüstert: Glaubst du eigentlich an die Liebe auf den ersten Blick? Draußen bei den Laternen schau ich dich an, schaust du mich an, schauen wir uns – der Moment, wenn alles um einen herum zu verschwimmen beginnt, auf der oft zitierten Metaebene so einiges passiert und Amor seinen Bogen für den finalen Schuss spannt. Es gibt ihn. Ganz bestimmt.
Doch Stopp, denn das hier ist kein Rosamunde Pilcher Roman, sondern das beste Magazin für Rollstuhlbasketball in Deutschland. Und für Martin Stich war es auch keine Liebe auf den ersten Blick. Also, aufwachen und weg mit der blumigen Sprache – einer Poesie, die scheinbar der Feder von Nicholas Sparks entsprungen ist.
Wir schreiben das Jahr 2009 als der 31jährige Mittelhesse zum ersten Mal eine Rolli-Basketball-Partie sieht. Ein guter Bekannter hat den sympathischen Mitarbeiter der Lebenshilfe Gießen mit zu einer Partie des RSV Lahn-Dill geschleppt. Die Wetzlarer Korbjäger begeistern schon damals die Massen, sind die Benchmark im Behindertensport und begeistern Woche für Woche mit dem spektakulärsten Spiel auf Rädern. Doch Martin Stich ist sich irgendwie nicht sicher. Ganz nett, ja. Aber nett ist eben auch der kleine Bruder von…naja, ihr wisst schon.
Vom Virus gepackt
Doch irgendwann macht es eben Klick. Beim gebürtigen Wetzlarer legt sich der Schalter in der Halbfinal-Partie des RSV gegen die RBC Köln 99ers um. Die Stimmung elektrisiert ihn, die prall gefüllte Halle und die Dynamik des Spiels faszinieren ihn. „Da hat mich der Virus gepackt“, erinnert sich Stich. Und bis heute hat er jede Genesung abgelehnt, ja sich fast täglich mit neuem Stoff vollgepumpt. Dem Rollstuhlbasketball gehört sein Herz.
Edelfan sagen die einen, wandelndes Lexikon für den Rollstuhlbasketball die anderen. Ich treffe Martin Stich an einem seiner Lieblingsorte: Der Tribüne der August-Bebel-Halle. Während auf dem Parkett die Vorentscheidung um die europäische Königsklasse steigt, genehmigt sich der 31jährige ein Moment und lässt mich an seiner Liebe auf den zweiten Blick teilhaben. „Ich schätze an dem Sport, dass die Jungs und Mädels trotz ihrer Erfolge auf dem Boden geblieben sind“, so Stich, der seit der Spielzeit 2010/2011 eine Dauerkarte des amtierenden Deutschen Meisters besitzt. Die Mitgliedschaft im Fanclub versteht sich von selbst.
Bekannt wie ein bunter Hund
Man könnte meinen, es hätte etwas mit dem Beruf zu tun: Ich treffe oft Leute, die ich nicht kenne. Persönlich, telefonisch oder via moderner Kommunikationsmittel. Um mich ausreichend auf mein Interview vorzubereiten habe ich meinen guten Freund Jan Haller kontaktiert – „Sag mal, wir machen bei Rollt. was mit Martin Stich. Kennst du ihn?“
Diese Frage war überflüssig. Jeder beim RSV Lahn-Dill kennt Martin. Und Martin kennt jeden beim RSV. Stolz zeigt mir der 31jährige seine Akkreditierung für das Euroleague-Turnier in Wetzlar. Die magische Karte, die Zutritt hinter die Kulissen oder in den VIP-Bereich gewährt, baumelt um den Hals des stets gut gelaunten Edelfans. „Das hier“, – Stich hält mir das Stück Plastik direkt unter die Nase – „bedeutet mir so unendlich viel.“ Die große Rolli-Familie des RSV Lahn-Dill kann stolz auf ein Mitglied wie ihn sein, denn die gute Seele ist da wenn man ihn braucht: Ob als helfende Hand an allen Ecken und Enden, als bibbernder Zuschauer auf der Tribüne oder auch hinter der Kamera. Für Vereins- und Bundestrainer Nicolai Zeltinger filmte Stich bei der Eurobasketball 2013 in Frankfurt zahlreiche gegnerische Mannschaften. Und verbrachte so seinen Jahresurlaub im Dienste des Rollstuhlbasketballs. „Ach, nicht der Rede wert. Ich mach das gern.“
Während er die Paralympics 2012 gemeinsam mit der Oma vor dem Fernsehgerät verfolgte, gehören zwei Partien gegen das Oettinger RSB Team Thüringen zu den persönlichen Highlights von Martin Stich. „Als wir diese Bierkutscher letzte Saison aus dem Pokal geworfen haben, war das wie ein Weihnachtsgeschenk für mich“, lacht der Lebenshilfe-Mitarbeiter. Stolz zeigt er mir Fotos auf seinem Handy: Bilder mit dem Weltpokal, mit dem Fanclub, auf Auswärtsfahrten im Bus oder mit den Spielern des RSV. Björn Lohmann und Thommy Böhme rollen an uns vorbei und geben Stich „High Five“. Er gehört dazu.
Johnson, Zeyen, Paye, Serio & Anderson bilden Starting Five
Während sich die Halle langsam wieder zu füllen beginnt, hab ich noch zwei Fragen an das wandelnde Lexikon für Rollstuhlbasketball: Warum er eigentlich nicht selber mal ein bisschen dribbelnd auf Korbjagd gehe, will ich wissen. „Ich spiele mit dem Gedanken, anzufangen, ja. Aber dann nageln die Jungs mich fest“, so Stich, „also bitte im Artikel nicht so deutlich schreiben“, blickt er verstohlen in mein Notizbuch. Zu spät.
Zwingt man Martin Stich – bei all seiner Liebe zur aktuellen Mannschaft des RSV Lahn-Dill- eine „All-Time-Starting-Five“ zu wählen muss der 31jährige zwar einige Male korrigieren, legt sich dann aber doch auf Annika Zeyen, Joey Johnson, Steve Serio, Mike Paye und Patrick Anderson fest. Und dann erstaunt mich der gebürtige Wetzlarer erneut und beweist seinen Ruf als wandelndes Lexikon. Fluchs zählt er die Klassifizierungspunkte der einzelnen Akteure auf, die in seinem Dream Team das Jersey überstreifen würden. Während ich mich hinter meinen amateurhaften Kenntnissen im Bereich der Spieler-Punkte verstecke, blüht Stich auf. Beeindruckend.
Doch so schnell unser Gespräch begonnen hat, so schnell endet es eben auch wieder. Gleich rollen die Gastgeber aus Mittelhessen aufs Parkett und Martin Stich muss hinter die Kamera. Muss zittern. Muss klatschen. Muss jubeln. Muss leiden. Muss seine zweite Liebe genießen, die längst zu seiner ersten geworden ist. Und hier sind wir wieder bei der Geschichte von Amor, der wohl manchmal ein wenig Zeit benötigt, sein Ziel zu finden. Aber diesen zweiten Pfeil dann umso tiefer im Herzen platziert. Zweite Liebe eben, der Sonne entgegen. Martin Stich hat etwas gefunden, an das er glauben kann.
Vorhang auf und herzlich Willkommen in der Welt des Rollstuhlbasketballs.
Text: Sven Labenz // Bilder: privat