„Never change a running system“ – viele Laien glauben, das sei das Mantra der IT-Experten. Und auf dem Feld gibt es diese Einstellung auch. „Das mache ich schon immer so“ oder „das habe ich so gelernt“, hört man als Coach immer und immer wieder. Beides taugt nichts, wenn es lediglich Ausrede ist, um nichts Neues zu lernen.
Mit Ausnahme einer kleinen, aber beharrlichen und lautstarken Fraktion glauben die meisten Menschen heute an Evolution. Ich will das Fass um den Kreationismus nicht aufmachen, keine Sorge, vielmehr geht es mir um das Prinzip „Evolution“. Aber zunächst zum Basketball…
Ich denke, ihr kennt die Situation: Da fährt ein Mannschaftkollege aus der Transition-Defense durch bis zur Grundlinie, ehe er sich eine vernünftige Verteidigungsposition sucht. Da begleitet jemand seinen Gegenspieler, statt ihn mit dem Rollstuhl zu stellen. Da gibt es diese Überzahl-„Systeme“, die den freien Angreifer über 15-20 Sekunden „auspassen“ oder prinzipiell darauf abzielen, den Trailer auf dem Weg zum Korb anzupassen. Und die Erklärung dafür ist in der Regel: „Das habe ich so gelernt“ oder „das haben wir in XY immer so gespielt, und es hat ja auch immer funktioniert“.
Das Problem daran ist: Das sind keine Begründungen, sondern Ausreden. Ich will erfahren, welchen Vorteil etwas bringt, welche Nachteile etwas abmildert. Und darauf erfahren wir keine Antwort. Und jetzt kommt die Kurve zurück zum Biologismus und der Evolution: Die Bereitschaft, Neues zu lernen, Nachteile und Vorteile bestimmter Konzepte abzuwägen, sorgt dafür, dass Ihr gute Rollstuhlbasketballer werdet und – noch wichtiger – auch bleibt.
Als ich angefangen habe, und das ist noch nicht so lange her, wie es scheinen mag, gab es im Rollstuhlbasketball so gut wie keine Dreipunktwürfe. Man musste kein Konzept haben, um weiter als 5m vom eigenen Korb zu verteidigen. Um im darwinistischen Bild zu bleiben: Mit dieser Defense stirbt man heutzutage aus oder wird zumindest nach unten durchgereicht. Der enorme Wandel, den Rollstuhlbasketball erlebt hat – in der Rollstuhltechnik, in den Kompensationstechniken, der Athletik, der Qualität der Ausbildung und des Trainings – kann getrost verglichen werden mit dem Übergang von Eis- und Warmzeit oder dem Aussterben der Dinosaurier.
Mir geht es nicht darum, alles Alte für falsch zu erklären und stattdessen alles neu zu erfinden. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass es für jede Situation auf dem Feld mehr als eine Lösung gibt. Jede Lösung hat ihre Vorteile, und jeden Vorteil erkauft man mit einem gewissen Nachteil. Dessen muss man sich bewusst werden und es bringt eine Menge, im Training jede Lösung mit ihren Vor- und Nachteilen einmal durchzuspielen.
Man muss unterscheiden zwischen Routinen – das ist, was man „eingespielt sein“ nennt und was im Prinzip Lernen durch Wiederholung und damit etwas Gutes ist – und Gewohnheiten. Gewohnheiten sind das, was man immer macht, weil man es immer so macht, und „Defense als begleitendes Fahren“ oder „zuerst die eigene Baseline besuchen“ sind solche Gewohnheiten.
In einem Gameplan geht es ganz zentral darum, solche Gewohnheiten der Gegner zu kennen und Rezepte zu entwickeln, wie man diese Schwachstellen attackiert. Gewohnheiten kann man nicht nebenbei ablegen, und so bleibt es dabei, dass man diese Schwachstelle verlässlich angreifen kann. Da sind wir beim einleitenden Zitat aus der IT-Branche: Wer seine Systeme so konservativ behandelt, sorgt dafür, dass Sicherheitslücken nie behoben werden.
Die „Two Men Games“, die ich in einer der letzten Kolumnen beschrieben habe, sind eine Art Fossil, das wohl nie ausstirbt – die Art, wie man sie spielt, warum und wann, hat sich vielleicht ein wenig verändert. Aber im Prinzip ist es derselbe Skill, seit Ben Klerks und Frits Wiegmann vor gefühlten 100 Jahren damit nahezu unstoppbar waren.
Die Yoyo-Defense und der Triple-Switch sind gewissermaßen die evolutionäre Reaktion darauf und erlauben gut trainierten und eingespielten Teams, entweder den Screen oder das Blocken und Abrollen nahezu zu neutralisieren.
Wer hier sagt „Wir haben immer man-to-man gespielt und das war immer gut“, der wird gnadenlos ausgeblockt und mit Korblegern erledigt. Wer traditionell seine enge 1-2-2-Zone spielt, weil er das so gelernt hat, wird von außen abgeschossen.
Noch einmal: Es ist nicht schlecht, es immer so zu machen, wie man es gelernt hat. Was ich Euch vermitteln will, ist, dass sich das Spiel verändert. Die Gegner verändern sich. Meine Mannschaft verändert sich. Ich selbst verändere mich. Wer nicht bereit ist, seine Gewohnheiten zu hinterfragen und sich anzupassen, der ist relativ bald ein Fossil. Seid immer bereit, zu lernen. Veränderungen sind gut, Veränderungen sind Fortschritt – veränderte Bedingungen brauchen angepasstes Verhalten. Mit jeder Anpassung, mit jedem kleinen Lernvorgang, reift ihr als Spieler – ein Leben lang.
Übrigens: Manche Gewohnheit ist einfach nur scheiße und falsch – ohne jede Diskussion. Sie war früher schon scheiße, und ist es heute immer noch.
Die zehnte Ausgabe hat von der Diskussion mit einigen von Euch profitiert – allen voran geht mein Dank an Jörg Hilger, der mir die Idee zu dieser Kolumne geliefert hat, und Simona Ladzik, die mich mit einem riesigen Berg Fragen und Ideen bombardiert hat. Ich freue mich über jede Frage und jede Diskussion. Nutzt die Kommentare hier oder auf Facebook, ich gehe gerne auf Eure Anregungen ein. Ich bin überwältigt, wie viele Leute die Kolumne lesen und mich darauf ansprechen. Danke für jede Rückmeldung und jedes Like!
So, zum kleinen Jubiläum geht der anekdotische Schlussabsatz auf einen Dauerbrenner ein: „Warum hängt der Korb genauso hoch wie beim normalen Basketball?“. Weil die Regeln so sind, damit man Rollstuhlbasketball in jeder Sporthalle spielen kann. „Ist das nicht unfair, weil die Behinderten ja von viel weiter unten werfen?“ Nein, der Reiz des Spiels ja gerade ist, dass nicht jeder Ball in den Korb geht. Kennt ihr Benjamin Blümchen #19: „Als Fußballstar“? Da fragt er „Warum die sich denn um einen einzigen Ball? Warum hat denn nicht jeder einen Ball, mit dem er spielen kann?“ – jedes Mal, wenn ich die Frage nach der Korbhöhe beantworte, erinnere ich mich daran und dann ist die Frage schon nicht mehr so blöd. Wir machen eben einen relativ „exotischen“ Sport und ehrlich gesagt bin ich dankbar, wenn jemand fragt, was ihm durch den Kopf geht, statt sich irgendeine Erklärung auszudenken. Meine Oma glaubt glaube ich immer noch, ich mache „das mit den Behinderten“, weil es einfach zu wenige von „den Behinderten“ gibt, dass die ihren Sport alleine machen können…
Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.” %CODE1%