Es gibt Momente, die finde ich unbezahlbar. Im Rollstuhlbasketball ist das für mich, „undercover“ auf der Tribüne zu sitzen und jemandem zuzuhören, der gerade jemanden begleitet, der zum ersten Mal Rollstuhlbasketball schaut. Das sind zum einen schöne Momente, weil man erfährt, was die Zuschauer an unserem Sport so begeistert. Und das ist meistens auch ziemlich unterhaltsam, weil da ganz oft einem absolut Ahnungslosen ganz naiv die Welt erklärt wird. Und da „lerne“ ich fast jedes Mal: „Die sind auch in den Rollstuhl gegurtet, damit die nicht so oft rausfallen“. Und wisst ihr was: Ich glaube, seit die Spieler in Rollstuhl gegurtet sind, fallen sie so oft raus wie nie zuvor!
Aber zunächst mal: Alles Gute für das Jahr 2014. Nicht jeder Wunsch wird erfüllbar, nicht jeder Vorsatz einlösbar sein, aber ich wünsche Euch, dass Ihr das Maximum aus dem erreicht, was ihr Euch vorgenommen habt. Ein gutes Zeichen, dass Ihr auf dem richtigen Weg seid, ist, wenn Euch heute, am dritten Tag des neuen Jahres, schon wieder die Arme und Hände mehr weh tun als der Schädel.
Aber zur Sache: Der „Sicherheitsgurt“ – das ist eines der zentralsten technischen Details im Rollstuhlbasketball. Wir nennen ihn „Strap“ oder „Strapping“, offiziell heißt es im Regelbuch „Gurt oder Riemen, fest mit dem Rollstuhl verbunden“ – mit „Sicherheit“ hat der, außer im Breitensport, rein gar nichts zu tun. Jeder, der Rollstuhlbasketball auch schon mal ohne Gurte gespielt hat, weiß: Mit richtig gesetzten Gurt und einem entsprechend abgestimmten Rollstuhl kann man die abartigsten Stürze drehen, von denen man ohne Gurt nicht einmal träumen kann.
Strappings dienen nämlich eigentlich dazu, eine Verbindung zwischen Körper und Rollstuhl herzustellen, die Kräfte vom einen auf das andere überträgt. Der Gurt um die Hüfte ist bei allen Spielern nahezu ein Standard: Bei Lowpointern fixiert er den Körperschwerpunkt nahe dem Schwerpunkt des Stuhl und kompensiert dadurch, dass er die Hüfte tief zur Sitzfläche und Rückenlehne zieht, die durch die Lähmung fehlende Körperspannung. Bei Mid- und Highpointern ist der Hüftgurt die Schaltstelle der Kraftübertragung auf den Stuhl: Den Stuhl drehen, lenken, kippen und hüpfen bzw. holpern lassen – das sollte jeder Spieler irgendwie hinbekommen, wenn er diesen Gurt verwendet.
Eines der großartigsten Zitate von Patrick Anderson betraf genau die Gurte – er sagte: „Du würdest doch auch im Fußgängerbasketball niemals mit offenen Schnürsenkeln spielen, oder?“ Pat gehört zu den Spielern, die die Verbindung zwischen Mensch und Rollstuhl perfektioniert haben: Er ist ein Meister des Tiltings, also des Kippens des Stuhles, und die Art und Weise, wie er sich förmlich wieder in den Stuhl katapultiert, wenn er stürzt (was extrem oft vorkommt), ist fast eine Art „Signature Move“.
Das sieht alles enorm einfach und spielerisch aus, aber es ist brutal harte Arbeit. Und es ist etwas, an dem ihr arbeiten solltet, weil alles in unserem Sport mit der Stuhlkontrolle beginnt. Wenn ich noch keinen Gurt verwendet – leiht Euch welche, ruhig ein paar, und probiert mal aus, wo Euch Gurte wirklich nutzen. Lowpointer profitieren stark von Gurten, die die Sitzstabilität verbessern. Der Klassiker ist – neben Hüfte und Knien – der elastische Brustgurt – bei Korblegern, beim Pushen, schnellen Richtungswechseln und Stuhlkontakten unbezahlbar. Und für Highpointer kann es sich lohnen, auch mal einen Gurt an den Knien zu testen – oder zu experimentieren, wo der Hüftgurt mit dem Rahmen verbunden ist. Ihr werdet schnell merken, wie viel Potenzial ihr an dieser Stelle möglicherweise verschenkt habt. Was ihr aber auch merken werdet: Je fester Ihr am Rollstuhl angegurtet seid, desto gnadenloser übertragen sich auch die Bewegungen des Stuhls auf euren Körper: Es wird Euch eine Menge Zeug gelingen, was echt elegant aussieht – aber es wird Euch ebenso elegant wie regelmäßig auf die Bretter fegen, weil es eine Menge “Stuhlgefühl” braucht, um richtig zu reagieren, wenn ihr merkt, dass es abwärts geht…
Sobald ihr erstmal optimal „angegurtet“ seid, solltet ihr deshalb in jeder Trainingseinheit Zeit darauf verwenden, Euren Rollstuhl in Extremsituationen zu bringen. Dazu gehört neben dem Drehen und Kippen auch das Fallen und Wiederaufrichten. Probiert mal aus, wann und wie Euer Stuhl umfällt. Und wenn ihr dann auf dem Boden landet: Auf den Bauch rollen, in Liegestützposition und… naja – das wird wohl erstmal unerreichbar sein.
Das Wiederaufrichten ist ein Kapitel für sich, und ich gebe freimütig zu, dass ich es nie gelernt habe, ohne meine Füße dabei einzusetzen. Aber die Grundschritte sollte jeder kennen und üben, genauso wie die wichtigsten Techniken im Stuhl: Ihr solltet üben, die Fahrtrichtung zu verändern (das geht genau wie Hula-Hoop mit der Hüftbewegung), ihr solltet mit dem Stuhl „springen“ können (kleine Hopser, zumindest aber vom linken aufs rechte Rad kippen), ihr solltet wissen, wann und wie Euer Stuhl kippt und wie ihr ihn abfangt, damit ihr nicht fallt, und ihr solltet die beiden „Tilts“ trainieren.
Ihr könnt den Stuhl generell in zwei Richtungen kippen – jeweils rechts und links über die Achse zwischen Hinter- und Vorderrad. Lehnt man sich dabei zum Gegenspieler, nennen wir es „defensive tilt“, weil man damit näher an einen Gegner herankommt, was man vorwiegend zum Verteidigen von Würfen braucht. Lehnt man sich vom Gegenspieler weg, nennt man es entsprechend „offensive tilt“, weil sich damit seinen Wurf freiräumt, indem man Platz (und den instabilen Stuhl) zwischen Wurfhand und Gegner bringt.
Jedes Mal, wenn’s Euch beim Üben hinklatscht: Malt Euch einfach aus, wie oft Patrick Anderson in seinem Leben schon in höchst blamablen Situationen war, als er Stunts wie diesen hier geübt hat. Und wenn ihr jetzt nicht wisst, warum ich „höchst blamabel“ geschrieben habe: Gurtet Euch mal im Rollstuhl gut an, kippt das Ding und nehmt ein Rad an. Euren Teamkollegen viel Spaß dabei, wir lesen uns in zwei Wochen!
Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.” %CODE1%