Auch auf die Gefahr hin, dass ich alle, die auf etwas Spieltaktisches warten, enttäusche: Meine Rollt.-Kolumne dreht sich um etwas anderes, was für unser Spiel aber so grundlegend ist, dass ich direkt in der zweiten Ausgabe schon drüber schreiben will. Klassifizierung heißt mein Thema, und darüber wird immer wieder so viel Unsinn erzählt, dass ich besser aus meiner Sicht als Coach mal ein paar Worte dazu verliere, bevor ich in den kommenden Wochen (vielleicht) wieder etwas mehr zu Spiel und Taktik komme.
Die Basics kennt glaube ich jeder im Schlaf: Jeder Spieler hat Klassifizierungspunkte im Pass eingetragen, von 1,0 bis 4,5, abgestuft in 0,5er-Schritten, abhängig von der Behinderung. Dann gibt es ein paar Boni auf diese Punkte (für Frauen, Jugendliche unter 18 und Neuanfänger), und es gibt ein Maximum für die fünf Spieler, die aktuell auf dem Feld stehen. In fast allen Ligen Deutschlands und in den Europapokal-Wettbewerben sind es 14,5, für Nationalmannschaften nur 14,0.
Aber was heißt das eigentlich: „abhängig von der Behinderung“? Formal nennt sich unser Klassifizierungssystem die „funktionale Spielerklassifizierung“. Einer der Vordenker dieses Systems kommt aus Deutschland und ist ein „Gründervater“ des Rollstuhlbasketballs und -rugbys: Horst Strohkendl – eine lebende Legende unseres Sports. Wer öfter zu den Köln 99ers geht, kennt Horst zumindest vom Sehen. „Funktional“ bedeutet: Man schaut darauf, welche Muskelfunktionen, die für den Sport relevant sind, ein Spieler nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch im Spiel oder Training vollbringen kann. Gegenüber dem alten (und in quasi allen paralympischen Sportarten nach wie vor üblichen) System ist das wirklich bedeutsam, denn dort galt und gilt der medizinische Befund und eine genaue und sehr penible neurologische Untersuchung.
Es macht keinen Sinn, wenn ich als absoluter Klassifizierungs-Amateur Euch die Details erkläre, aber behaltet generell im Kopf, dass die „funktionale Klassifizierung“ nicht fragt, welche Behinderung ein Spieler hat, sondern welche basketballtypischen Bewegungsmuster er kontrolliert umsetzen kann und im Spiel zur Anwendung bringt.
Daraus resultieren nämlich drei Schlüsse, die oft zu Missverständnissen und Fehlschlüssen führen:
Erstens ist die funktionale Klassifizierung nur in sofern gerecht, wie es durch individuelles Beobachten machbar ist. Die Klassifizierer arbeiten intensiv und mit objektivierbaren Kriterienkatalogen daran, so objektiv wie möglich zu beobachten, auf hohem Niveau sind sogar oft mehrere Klassifizierer an einer Entscheidung beteiligt. Aber für alle gilt: Sie können und dürfen nur das klassifizieren, was sie sehen (und nicht sehen), und das kann davon abweichen, wie Spieler sich selbst kennen und einschätzen, und wie Trainer ihre Spieler einschätzen.
Zweitens, und das ist vielleicht eine etwas provokantere These: Diese Entscheidung ist nur bedingt fair. Sie ist fair, weil jeder Spieler unter gleichen Kriterien beobachtet wird. Und sie ist oft nicht fair, weil zwangsläufig an einem bestimmten Punkt ein Spieler Gefahr läuft, dass er durch gutes Training, optimale Hilfsmittel und absolut verinnerlichte Kompensationstechniken funktional wesentlich weniger eingeschränkt wirkt (oder ist), als er durch seine physische Behinderung sein sollte. Das führt gelegentlich zu individuell sehr bitteren Entscheidungen, denn 0,5 Punkte mehr oder weniger bedeuten oft eine Menge für die Rolle eines Spielers im Team.
Drittens: Jede Klassifizierungsentscheidung ist nur sehr bedingt vergleichbar. Die „gleiche“ Behinderung führt nicht zwingend zu identischer Klassifizierung, und noch weniger spiegelt die Punktezahl alle Kompetenzen eines Spielers. Das fängt bereits bei der Konzentrationsfähigkeit und kognitivem Leistungsvermögen an – bestimmte Behinderungen wie etwa Spina Bifida schränken beides gerade unter körperlicher Belastung ein und sind dann eine zusätzliche „Behinderung“ verglichen mit einem Spieler der selben Klassifizierung, der „nur“ eine Querschnittsverletzung des Rückenmarks hat. Argumente wie „warum kann der gehen und ich nicht, wir haben aber beide die Klassifizierung 2,5“ zählen da also nicht.
Fangen, Werfen, Passen, Rebounden, Rollstuhlantrieb sind die fünf wichtigsten Rubriken des Beobachtungskatalogs, und in dessen Rahmen wird über die Klassifizierung entschieden. Bestimmte Fähigkeiten sind darin festgelegt, etwa, ob man mit beiden Händen über dem Kopf frei rebounden kann. Weist ein Spieler Merkmale zweier Kategorien auf, wird der Zwischenschritt zwischen beiden Punktekategorien gewählt. Die 2,5 aus dem Beispiel oben sagen also lediglich: Diese Person weist typische Merkmale sowohl von 2,0 als auch 3,0 auf. Im Klassifizierungsentscheid kann man die wichtigsten Punkte für die Entscheidung dann nachlesen – und der Vorgang sieht auch vor, dass Spieler und Trainer die Entscheidung auch direkt erklärt bekommen.
Um jetzt die Kurve zu kriegen zu meiner eigenen Perspektive zwei Geschichten zum Schmunzeln: Nummer eins: Es mag furchtbar fies klingen und man mag es kaum glauben, aber es gibt Behinderungen, mit denen man in unserem Sport den „Jackpot“ gezogen hat, und zwar solche, die man gut mit Hilfsmitteln und Techniken kompensieren kann. Die meisten Amputationen kann man gut gewählten Strappings (dazu gibt’s demnächst ein Pick and Rollt.) ausgleichen, man spart aber eine Menge Gewicht. Der Umkehrschluss gilt auch: Manche Behinderungen sind einfach so assi, dass sie selbst im Vergleich mit anderen Behinderungen eine arge Behinderung sind. Hauptgewinn, Trostpreis und Nieten – es ist alles im Topf. Jetzt werden alle Nichtbehinderten schreien „Du unsensibles Arschloch!“ und alle mit Behinderung grinsen, nicken und denken „Aber so ist es doch…“.
Und Nummer zwei: Vor 14 Jahren habe ich zum ersten Mal einen Typen gesehen, den ich gefühlt mit MINUS 4,5 Punkten klassifiziert hätte. Arme und Beine fehlgebildet bis nicht vorhanden – für mich war klar, dass der seinen Platz im Kader der französischen Nationalmannschaft bloß aus Mitleid bekommen hatte. Und natürlich: Wenn man so etwas denkt, bekommt man eine fette Quittung. Der Kerl hat im Spiel dann 6/6 aus dem Feld geworfen, sechs Assists verteilt und war Kapitän der französischen Europameister-Mannschaft. Der Typ heißt Ryadh Sallem, ein Riesentyp, nicht nur körperlich (denn auf Prothesen ist er wirklich klar über 2,00m groß!), sondern einfach einer der großartigsten Rollstuhlbasketballer Europas und der Beweis, dass es für jede Behinderung eine Kompensationstechnik gibt.
Für mich gilt seitdem: „geht nicht“ ist unserem Sport relativ. Jeder Spieler hat Dinge, die für ihn physiologisch absolut unmöglich sind. Meine Rolle als Coach ist auch, Spielern beizubringen, wie man diese Einschränkungen mit technischen, athletischen oder vielleicht sogar einfach kreativen Mitteln umschifft. Nicht laufen zu können ist vielleicht der beste Grund, nicht dunken zu können. Aber das darf kein Grund und keine Ausrede sein, nicht trotzdem den Ball spektakulär in den Korb zu bringen.
Kleines P.S.: Jede Klassifizierung hat ihre eigene Farbe im Spielerpass, damit man sie auf den ersten Blick und ohne Lesen erkennt. Jeder, der die Reihe von 1,0 bis 4,5 NB aus dem Kopf aufsagen kann, mal bitte sein „Bingo!“ in die Kommentare werfen – das würde mich doch mal interessieren, wie viele Rollstuhlbasketball-Nerds es hier gibt. Fragen oder Themenvorschläge sind natürlich in den Kommentaren genauso vollkommen, auch wenn ihr keine einzige Farbe wisst.
Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.” %CODE1%