Hallo Herr Mach, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, uns ein paar Fragen zu beantworten. Als Mitarbeiter der BG Klinik Murnau haben Sie lange Zeit mit „frisch Verunfallten“ bzw. Rückenmarksverletzten zusammengearbeitet. Erzählen Sie uns doch in kurzen Sätzen, worin Ihre Aufgabe in der BG Klinik bestand und aktuell besteht?
Von Anfang 1992 bis Ende 2015 war ich für die Sporttherapie im Zentrum für Rückenmarkverletzte verantwortlich. Das beinhaltete das Mobilitätstraining für Rollstuhl- und E-Rollstuhlfahrer sowie das Gehtraining im Wasser und im Gelände für Patienten, die wieder zu Fuß unterwegs sein konnten. Neben der Einführung in verschiedene Sportarten wie Basketball, Bogenschießen, Handbike, Rugby, Schwimmen, Tischtennis und Tennis war es auch hilfreich verschiedene Peer-Counselling-Workshops zu organisieren. Skifahren war auf Grund der geografischen Lage für viele Patienten von besonderer Wichtigkeit. Seit 2004 bin ich zunehmend in verschiedene Forschungsprojekte als wissenschaftlicher Studienkoordinator eingebunden, was heute den allergrößten Teil meiner Arbeit ausmacht.
Können Sie unseren Lesern, die, wie ich, nicht unbedingt im Thema stecken, einen kurzen und verständlichen Abriss geben, was mit dem menschlichen Körper passiert, wenn es zu einer Rückenmarksverletzung kommt?
Das Rückenmark ist Informations- und Funktionsübermittler zwischen Gehirn und Körper. Wenn man mal von Stich- und Schussverletzungen absieht, bei denen das Rückenmark faktisch durchtrennt wird, dann ist die Unterbrechung der Blutzufuhr und damit der Sauerstoffversorgung meist die Ursache für eine Schädigung des Rückenmarks. Diese Unterbrechung wird oftmals ausgelöst durch einen erhöhten Druck auf das Rückenmark. Dieser erhöhte Druck resultiert zum Beispiel aus den knöchernen Bruchstücken einer Wirbelsäulensäulenfraktur, einer Bandscheibe oder einem Tumor. Immer dann, wenn Körpergewebe nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann, kommt es zu einem Absterben des Gewebes. Das ist beim Rückenmark genauso wie beim Herzinfarkt oder beim Schlaganfall. Die Folge einer Schädigung des Rückenmarks ist der teilweise oder vollständige Verlust von Körperfunktionen und wird Querschnittlähmung genannt.
Das Ausmaß einer Querschnittlähmung ist dabei abhängig von der Höhe der Schädigung im Rückenmark und der Dauer und der Schwere der Unterversorgung. Die Funktionsverluste machen sich unterhalb der Schädigung in 3 Bereichen bemerkbar. Es kommt dabei zum Verlust der Motorik, die Patienten können je nach dem ihre Hände und Arme, ihren Rumpf und/oder ihre Beine nicht mehr oder nur noch eingeschränkt bewegen. Das führt oftmals dazu, daß Patienten nur noch mit dem Rollstuhl oder E-Rollstuhl mobil sein können. Bei besonders hohen Lähmungen geht auch die Fähigkeit des selbständigen Atmens verloren, diese Patienten müssen dauerbeatmet werden, die Kommunikationsfähigkeit ist hier oftmals ebenfalls stark eingeschränkt.
Die Oberflächensensibilität zur Wahrnehmung von Berührung, Wärme, Kälte und Schmerz ist im Bereich der Lähmung gestört und führt oftmals zu unbeabsichtigten Verletzungen und Verbrennungen und auch zu Druckstellen an der Haut und im darunter liegenden Gewebe. Viele Betroffene verwenden deshalb spezielle Sitzkissen und Polsterungen um den Druck auf die Hautareale großflächig zu verteilen.
Die Schädigung im vegetativen Nervensystem führt dazu, daß die Blasen-, Darm- und Sexualfunktionen verloren gehen. Das ist für viele Betroffene das Unangenehmste und Einschneidenste an einer Querschnittlähmung. Die Ängste um die eigene Inkontinenz führen oft zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität und immer wieder dazu, daß sich Betroffene aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Es ist jedem Menschen extrem unangenehm unbeabsichtigt Stuhl und Urin zu verlieren.
Bei all diesen Schwierigkeiten und Problemen ist eine gute Beratung und Behandlung in einem spezialisierten Zentrum empfehlenswert.
Sie haben jahrelang mit Menschen zusammengearbeitet, deren Welt sich von dem einen Tag zum anderen verändert hat. Wie hat Sie das persönlich geprägt?
Wenn Sie mich nach meinen persönlichen Konsequenzen fragen, so habe ich verschiedene Risikosportarten für mich selbst, nicht nur aus altersbedingten und familiären Gründen, nicht weiterentwickelt. Als Sportlehrer war ich allerdings auch immer in einer komfortablen Situation. Die Patienten, die zu mir in die Therapie gekommen sind, waren fähig und auch größtenteils Willens sich zu bewegen, um Sport zu lernen und auszuüben. Damit war auch der Weg vorgegeben, nicht über das zu trauern, was verloren ist, sondern die Chancen für Neues zu entwickeln. Ich war und bin auch heute noch dankbar mit so vielen interessanten Menschen ein Stück ihres Lebenswegs gehen zu dürfen. Daraus ist ein großes Netzwerk entstanden. Nach dem Slogan „einmal Murnau – immer Murnau“ bleiben viele unserer Patienten im Rahmen der lebenslangen, medizinischen Nachsorge in Kontakt mit der Klinik. Es freut mich viele Sportaktive auch nach Jahr(zehnt)en immer wieder in der Klinik oder auch bei den unterschiedlichsten Events zu treffen.
Haben Sie für sich über die Jahre eine Vorgehensweise entwickelt, wie Sie mit „frisch Verunfallten“ umgehen bzw. sich diesen nähern?
Als Student bin ich mit unterschiedlichsten Führungsstilen konfrontiert worden. Für mich hat sich am Beginn einer Therapie der autoritäre Führungsstil als sehr gutes Mittel herauskristallisiert. Ein autoritärer Führungsstil schließt ja per se eine Freundlichkeit gegenüber den Patienten nicht aus. Anfänglich stehen viele Patienten vor dem Nichts. Hier hat es sich bewährt klare Ansagen und Anweisungen zu geben, also Verantwortung für die Patienten zu übernehmen. In dem Maße wie die Patienten eigene Kompetenzen erworben haben, konnte auch diese (Eigen-)Verantwortung wieder zurückgegeben werden. Für mich war immer wichtig, mit dem Mensch als Patienten in Kontakt zu kommen und nicht nur seine Diagnose zu kennen und die Therapieziele abzuhaken. Kenntnisse aus seinem Umfeld und seine Ideen helfen sehr, dabei die richtigen Wege zu finden. Mit dem regelmäßigen Training und einer Portion Begeisterung für eine Sportart ist es doch in vielen Fällen gelungen, bei den Patienten eine Vision für die weitere (breiten-)sportliche Karriere zu erzeugen. Wenn die Patienten den Klinikaufenthalt beendet haben, war in vielen Fällen das (Sport-)Netzwerk sehr hilfreich, um die Möglichkeiten im häuslichen Umfeld zu erschließen.
Als Dipl. Sportlehrer haben Sie auch aktuelle Rollstuhlbasketball-Nationalspieler betreut. Können Sie uns – ohne die Schweigepflicht verletzen zu müssen – sagen, wen Sie trainiert haben und wie sich die Protagonisten geschlagen haben?
Das darf ich klarstellen: aktuelle Rollstuhlbasketball-Nationalspieler habe ich nie betreut! Es ist vielmehr so, daß am Anfang einer Karriere als Breiten- oder Leistungssportler oft ein Klinikaufenthalt im Zentrum für Rückenmarkverletzte der BG Unfallklinik Murnau stand, das war im Übrigen auch vor meiner Zeit in Murnau schon so. Hier haben sich die Patienten mit den Sportarten wie Basketball, Rugby, Skifahren und Handbiken erst einmal vertraut gemacht. Und daß am Anfang nicht immer alles glatt läuft, vieles neu erlernt werden muss und gleichzeitig viele andere Probleme außerhalb des Sports bewältigt werden müssen, versteht sich ja auch von selbst. Gerade in den ersten Monaten steht hier der Sport nicht immer an erster Stelle. Der Schritt in den Leistungssport und in die Nationalmannschaften ist aber ausschließlich von den Sportlerinnen und Sportlern selbst über die Vereine und Verbände erfolgt. Wenn ich auf die zurückliegenden Jahre blicke, so erfüllt es mich natürlich mit Freude für eine ganze Reihe von Sportlern aus dem südbayerischen Raum die Basis für das weitere Sporttreiben geschaffen zu haben. Es gibt viele bayerische Rollstuhl-Sportvereine in denen Patienten aus Murnau ihre sportliche Karriere im Rollstuhlbasketball fortgesetzt haben. In der Rehabilitation meiner Patienten stand für mich nicht so sehr im Vordergrund eine Karriere im Leistungssport zu initiieren, sondern vielmehr die Lust und den Spaß an der Bewegung zu fördern.
Viele Athleten berichten, dass Ihnen der Rollstuhlbasketball in der Reha sehr geholfen hat. Wie sehen Sie das bzw. was sind Ihre Erfahrungen? Was kann Sport in der Reha leisten?
Dem kann ich nur zustimmen. Hier sind 3 Bereiche erwähnenswert, die miteinander verknüpft sind. Zum einen fördert der Sport die körperliche Entwicklung hinsichtlich der Kraft, Ausdauer, Balance und Schnelligkeit in der neuen Körper- und Lebenssituation. Gelingt es den Spaß an der Bewegung und am Sport in den Vordergrund zu stellen, bemerken die Patienten oftmals gar nicht so sehr ihre Anstrengung. Mannschaftssportarten wie Basketball und Rugby fördern zudem die Mobilität im Rollstuhl über das Rollstuhltraining hinaus. Einzelsportarten wie Tischtennis oder Bogenschießen verbessern unter anderem vielfach die Balance des Oberkörpers, wohingegen Handbiken und Schwimmen zur Steigerung der Ausdauer beitragen können.
Eine gute körperliche Verfassung und eine erweiterte Mobilität führen dabei oftmals zu einem neuen, stärkeren Selbstbewusstsein der Patienten. Zusammen mit zunehmenden Bewegungserfahrungen trauen sich viele zu, die neuen Herausforderungen selbst anzupacken.
Der Mannschaftssport bringt in vielen Fällen die Gelegenheit neue soziale Kontakte zu knüpfen. Viele Patienten, die die Reha gemeinsam absolviert haben, sind auch noch jahrelang danach in Kontakt miteinander. Ich beobachte immer wieder, daß unsere Patienten in der Klinik auf jede Frage eine Antwort bekommen. Zu Hause sieht das aber oft anders aus. Hier sind die Kontakte zu Betroffenen sehr hilfreich, der Sport dient hier als Mittel viele Fragen des Alltages beantwortet zu bekommen. Das Netzwerk der jeweiligen Sportart, egal ob das Basketball, Rugby, Handbike, Skifahren oder Tischtennis ist, ist hier wirklich Gold wert.
Gemeinsam im Team ein gemeinsames Training zu absolvieren, ein gutes Spiel in der Mannschaft zu gestalten oder einen gemeinsamen Sieg zu teilen, liegt vielen Sportlern. Dafür sind die Mannschaftssportarten besonders geeignet.
Könnte oder müsste der Fokus gerade in der Rehabilitation noch mehr auf den Sport gelegt werden bzw. sollte dem Behindertensport eine noch größere Plattform in den Unfallkliniken gegeben werden?
Die Aufenthaltszeiten in den Kliniken sind in den letzten Jahren sehr zurückgegangen. Natürlich kannst Du in 8 Monaten Rehabilitation gerade im Sport mehr erreichen als in der Hälfte der Zeit. Diese Situation werden wir aber in absehbarer Zeit nicht lösen können. Sehr hilfreich ist bei den kurzen Aufenthaltszeiten eine enge Verbindung zu den Sportvereinen in Wohnortnähe und zu den Sportverbänden, wie dem DRS oder den Landessportverbänden. Verschiedene Projekte haben sich zur Aufgabe gemacht, den Übergang von der Klinik in den Sportverein einfacher zu gestalten. In der BG Unfallklinik Murnau hat es sich in den letzten fast 40 Jahren bewährt, einen Rollstuhl-Sportverein, den RSV Murnau e.V., in der Klinik zu beheimaten. Damit ist nicht nur den ehemaligen Patienten die Gelegenheit gegeben, selbst Sport auszuüben, sondern es ist ein hervorragendes Mittel die akuten Patienten mit in das Vereinstraining zu integrieren. Aus meiner Sicht sollte das als Standard für alle BG Kliniken eingerichtet werden. Leider ist derzeit ein gegenteiliger Trend zu beobachten. Immer mehr Sporthallen werden nicht mehr dem originären Zweck zugeführt, sondern mit stationären Trainingsgeräten für den Rollstuhlsport blockiert. Sportarten, die in der Rehabilitationsphase nicht geschult und erprobt werden können, werden den bisher gewohnten Zulauf nicht mehr erfahren.
Ihr Sohnemann spielt als Fußgänger erfolgreich Rolli-Basketball bei den Iguanas in München. Wie verfolgen Sie seine Entwicklung?
Mein Sohn Florian hat wie viele Jungs beim Fußball angeheuert. Leider hat er die Gene meiner O-Beine geerbt, sodass er mit 15 Jahren schmerzbedingt mit dem Laufen und Springen reduzieren musste. In dieser Zeit ist er bei mir im Rollstuhlbasketball aufgeschlagen. Für mich gilt: ich bin mit dem Herzen Sportlehrer, aber nicht der Sportlehrer meiner Familie. Die Motivation beim Rollstuhlbasketball zu bleiben und sich weiter zu engagieren, kam dabei nicht von mir sondern von den Rollstuhlsportlern. Natürlich unterstütze ich meinen Sohn sehr gerne, wenn das sein Wunsch ist. Auch das wöchentlich 3malige Training in den Münchner Vereinen haben meine Frau und ich immer unterstützt und Florian vom letzten Zug um 0:30 Uhr mit dem Auto abgeholt, die Schule gab’s ja in dieser Zeit auch noch. Für die Zukunft wünsche ich mir für Florian eine Mannschaft mit der er gerne seine Zeit verbringt und Trainer, die ihn im Rollstuhlbasketball weiter voranbringen. Die Einladungen als Ergänzungsspieler zur Vorbereitung der Paralympics im Team Germany und zum NAS Ramadan Wheelchair Basketball Tournament 2016 nach Dubai haben Florian maximal erfreut und seine Eltern stolz gemacht. Es würde mich für Florian freuen, wenn sein Weg weiterführen würde.
Letzte Frage: Auf welchem Platz werden die Iguanas in der kommenden Spielzeit landen?
Ich denke die 1. Mannschaft des RBB München Iguanas ist mit Andi Ebertz und Florian Fischer als Trainer gut für die 2 Liga aufgestellt. Als Mannschaft hat sich ein Team weitestgehend aus München und Umgebung gefunden, das mit Sicherheit gut harmonieren wird. Ich hoffe nach dem 3. Platz in der letzten Saison auf einen 2. Platz. Ich bin nicht sicher, ob für einen Aufstieg in die 1. Liga schon alle sportlichen, personellen und wirtschaftlichen Grundlagen vorbereitet werden können.
Vielen Dank für Ihre Zeit.
Interview: Martin Schenk | Foto: BG Unfallklinik Murnau