Enrique Álvarez Orcajo ist Präsident des spanischen Behindertensportverbandes, kurz: FEDDF (Federación de Deportes de Personas con Discapacidad Física). Im Rollt.-Interview spricht der Manager über die Zukunftspläne des Rollstuhlbasketballs in Spanien, das Leistungsgefälle in den europäischen Wettbewerben und die neue spanischen Rollstuhlbasketball-Verbandswebsite. Ferner erklärt der Präsident, warum er die spanische Liga für die aktuell stärkste Liga de Welt hält und was er über einen Wettbewerb der Rollstuhlbasketball-Topklubs à la “Super League” denkt.
Enrique, als Präsident und Manager der FEDDF müssen Sie eine Vision über die Zukunft des Rollstuhlbasketballs in Spanien haben. Wie sehen Sie den Sport in den nächsten fünf Jahren, was die spanische Liga, den Sport selbst und die spanischen Nationalmannschaften betrifft?
Ich habe ein ehrgeiziges Projekt ins Leben gerufen, weil ich der Meinung bin, dass der spanische Rollstuhlbasketball ein großes Wachstumspotenzial besitzt. Der Rollstuhlbasketball als spektakuläre wie auch aufregende Sportart, eine gewisse soziale und sportliche Wirkung entfalten kann. Allmählich reagieren die Medien sehr positiv auf unseren Sport. Es ist an der Tagesordnung, Berichte über das Sportliche zu lesen. In der Vergangenheit ging es eher um die sozialen Aspekte. Der Rollstuhlbasketball verfügt über sämtliche Komponenten, die eine Sportart ihr eigen nennen muss, um sich von den vielen Angeboten abzuheben, die den Zuschauern im Fernsehen oder im Radio heutzutage geboten werden. Die spanischen Nationalmannschaften indes müssen ein Spiegelbild all dieser Arbeit sein und für die nachfolgenden Generationen zum Vorbild werden.
Welchen Stellenwert hat der Rollstuhlbasketball in der spanischen Gesellschaft und in der Para-Sport-Szene generell? Können Sie versuchen, das zu beschreiben?
Die aktuelle Situation ist ermutigend. Öffentliche Einrichtungen unterstützen unseren Sport in entscheidender Art und Weise. Obwohl wir noch weit vom Olympischen Sport entfernt sind, nimmt die Unterstützung zu. Wir bekommen große Zuwendungen seitens der öffentlichen Hand und werden entsprechend berücksichtigt. Eines der größten ungelösten Problem unseres Sports ist das Zuschauerinteresse bzw. die Anwesenheit des Publikums. Es ist möglich, dass wir in diesem Bereich bessere Ergebnisse erzielen werden, wenn die Fernsehpräsenz weiter zunimmt. Wir sind von der Stärke unseres Sports überzeugt und werden in diesem Sinne weiterarbeiten, um die gesteckten Ziele zu erreichen.
Sie haben kürzlich eine Partnerschaft mit Sunrise Medical/RGK verkündet. Können Sie uns einen Einblick in die Ziele der Zusammenarbeit geben?
Es handelt sich um eine strategische Vereinbarung, denn das wichtigste Hilfsmittel in unserem Sport ist der Rollstuhl, und Sunrise Medical ist für uns in diesem Kontext ein wichtiger Partner. Das Sponsoring beinhaltet verschiedene Aspekte, die über die rein wirtschaftlichen Punkte für uns als Verband hinausgehen. Unter anderem werden uns Ersatzteile und Materialien für unsere Nationalmannschaften zur Verfügung gestellt. Die Sportgeräte unserer Athleten müssen in einem perfektem Zustand sein. Sunrise Medical wird uns dabei helfen ein Auge auf das Material zu werfen und beschädigten Teile zu ersetzen. Dies ist großer Schritt nach vorn für uns alle.
Enrique Álvarez Orcajo (Mitte) nach der Vertragsunterzeichnung mit Sunrise Medical – Foto: Sunrise Medical
Sie haben kürzlich eine neue Website in den sozialen Medien angekündigt. Wird sie sich speziell auf den Rollstuhlbasketball oder auf die FEDDF als Ganzes beziehen?
Die externe Kommunikation wird und soll eine der Stärken des BSR Spanien (Anm. d. Red. BSR steht für Baloncesto en Silla de Ruedas, also Rollstuhlbasketball) sein. Für diesen Zweck wird es eine neue Seite geben, die sich aktuell im Aufbau befindet: bsrespaña.com. Diese Page wird sich ausschließlich mit Rollstuhlbasketball beschäftigen, und zwar in all seinen Facetten, wie nationale und internationale Wettkämpfe, die spanischen Nationalmannschaften; die Ausbildung für Trainer und Schiedsrichter und eine neue 3×3-Rubrik. Es wir auch eine ganz besondere Bereich mit den Streaming-Angeboten all unserer Wettkämpfe sowie der ausländischen Top-Wettbewerbe geben. Kurzum: Ein Treffpunkt für alle Rollstuhlbasketball-Liebhaber, die auf dieser Website alle Informationen finden, die das Herz begehrt.
Wann wird die Website online gehen?
Die neue Website, die sich derzeit noch im Aufbau befindet, wird am 1. Dezember in ihrer ersten Version in Testphase gehen. Der endgültige Start, und zwar mit allen Informationsbereichen und der Übertragung aller Spiele, erfolgt in der ersten Januarwoche 2023. Wir freuen uns sehr über die positive Resonanz aus der Community. Dies bringt uns unserem Ziel, die breite Öffentlichkeit unseren Sport entdeckt zu lassen und zu Anhängern des BSR und unserer Kommunikationskanäle und -plattform zu machen, ein großes Stück näher.
Wir Journalisten wollen immer ein bisschen provokant sein. In der Community wird zum Beispiel gerne darüber diskutiert, welche die stärkste und attraktivste Liga in Europa ist: die spanische oder die deutsche Liga. Was sagen Sie dazu? Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der deutsche Verband angekündigt hat, bis zu den Paralympics 2028 die erfolgreichste Rollstuhlbasketball-Nation Europas zu sein.
Es handelt sich zweifellos um die beiden besten Ligen der Welt. Beide Ligen sind mit einer Fülle von internationalen Spitzenspielern gespickt. Auch wenn ich ehrlich gesagt glaube, dass unsere Liga derzeit einen Ticken besser dasteht. Das mache ich an der Tatsache fest, dass das Champions-Cup-Finale, das zuletzt in Deutschland stattfand, von zwei unserer besten Mannschaften, Bsr Amiab Albacete und CD Ilunion Madrid, dominiert wurde. Zwei spanische Teams standen im Finale, welches mit dem ersten kontinentalen Titel für die Mannschaft aus “La Mancha” endete (Anm. d. Red.: Kastilien-La Mancha umfasst die Provinzen Albacete, Ciudad Real, Cuenca, Guadalajara und Toledo). Wettbewerb ist immer gut, weil er dazu beiträgt, dass man sich verbessern muss. In diesem Sinne werden wir, wenn möglich, noch härter arbeiten, damit die spanische Liga, die weltweit beste bzw. anerkannteste ist.
Lassen Sie uns in Europa bleiben. Es gibt vier Rollstuhlbasketball-Vereinswettbewerbe. Im Fußball gibt es drei: die Champions League, die Europa League und die Conference League. Ist der internationale Wettbewerb im Rollstuhlbasketball noch zeitgemäß? Auch vor dem Hintergrund der vergangenheitsbezogenen Jahreswertungen. Dies führt immer mal wieder zu erheblichen Leistungsunterschieden im Wettbewerb. Was denken Sie?
Die IWBF ist sich dessen sehr bewusst, und es ist schwierig, damit umzugehen. Wir dürfen die großen Niveauunterschiede nicht vergessen, die es im Rollstuhlbasketball auf dem Kontinent noch gibt. Meiner Meinung nach sollten die verschiedenen europäischen Ligen darauf hinarbeiten, das Niveau ihrer Wettbewerbe deutlich zu erhöhen, damit es mehr Homogenität im Wettbewerb gibt. Aber der wirtschaftliche Faktor und die unterschiedlichen Zyklen, die die Länder durchlaufen, machen es nicht einfach. Italien zum Beispiel arbeitet mit einem eigenen Rollstuhlbasketballverband sehr gut an der Basis, was langfristig für die Nationalmannschaft von grundlegender Bedeutung ist, auch wenn die Liga vielleicht etwas an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. Die Herausforderung besteht darin, eine sehr starke Nationalmannschaft auf die Beine zu stellen, ohne dass der nationale Wettbewerb darunter leidet.
Im Fußball gab es mal die Überlegung, eine “Super League” einzuführen. Also eine Liga bzw. “Closed Shop”, in der sich die absoluten Spitzenklubs in Europa in einem eigenen Wettbewerb duellieren. Wäre das nicht auch ein Modell für den Rollstuhlbasketball? Also ein eigener Wettbewerb mit den absoluten Topteams, wie Wetzlar, Madrid, Elxleben, Istanbul etc. Wie denken Sie darüber?
Ich denke, wir sind noch weit von dieser Möglichkeit entfernt. Wenn diese Spitzenmannschaften aus den europäischen Top-Ligen herausgenommen werden, würden wir viel von dem Potenzial verlieren, das wir jetzt erleben bzw. besitzen. Die Elite resp. die Topklubs würden viel gewinnen, aber wir würden die Basis verlieren. Langfristig wird so etwas zweifellos passieren, wenn wir in diese Richtung weiterarbeiten, aber ich sehe es noch in weiter Ferne.
Zum Schluss würde ich Sie bitten, wie Sie Dritten, die noch nie Rollstuhlbasketball gesehen haben, den Sport in drei Sätzen beschreiben?
SPEKTAKULÄR – Was uns von anderen Sportarten abhebt ist der Rollstuhl, das Hören und Sehen von Kollisionen mit den Stühle; das Hinfallen der Athleten und die schwindelerregende Geschwindigkeit der Spieler. All das macht unseren Sport einzigartig.
PRÄZISION – Wie beim Fußgängerbasketball kommt es auf Präzision und Zielgenauigkeit an. Wenn man zur großen körperlichen Beanspruchung noch die Schwierigkeit in puncto Chairskills addiert, wird die Präzision für einen guten Spieler zur Grundvoraussetzung.
INTELLIGENZ– Im Rollstuhlbasketball ist Platz sehr kostbar. Er muss auf jede erdenkliche Art und Weise genutzt werden. Intelligenz scheint die unsichtbare Waffe zu sein, mit der sich ein Spieler die Vorteile verschaffen kann, von denen alle Trainer sprechen.
Gracias, señor Orcajo.
Interview: Martin Schenk | Übersetzung & Koordinierung: Nicole Schultz | Foto: FEDDF