Interview mit Boris Nicolai | “Paralympisches Boccia ist eine Präzisions- und Taktiksportart”

Boris, vielen Dank dass du dir die Zeit nimmst, uns ein paar Fragen zu beantworten. Verrate unseren Lesern und Fans doch mal, warum Boccia richtiger Sport ist und nicht, wie von einigen angenommen, ein Freizeitbeschäftigung für Espresso trinkende Rentner mit Hut und Zigarre, die ihre Abend fern der Ehefrau auf Hinterhöfen und in Parkanlagen verbringen?

Ja, das stimmt. Boccia ist den meisten unter uns auch nur als lässige Freizeitbeschäftigung für zwischendurch oder als Zeitvertreib im Urlaub geläufig. Fälschlicherweise ist es auch unter dem Namen Boule bekannt. Tatsächlich steckt viel mehr dahinter, als „nur ein paar Bälle zu werfen“. Paralympisches Boccia ist eine Präzisions- und Taktiksportart, bei der dem Spieler in jedem Moment ein optimaler Wurf gelingen sollte. Dabei gibt es diverse Wurfarten wie Legen, Schießen, Drücken, Springen, Klettern, Billard, Schieben oder Spinball. Auch die Bälle unterscheiden sich in ihrer Beschaffenheit und Oberfläche, so dass man mit weichen und harten Bällen die verschiedensten Wurfarten, Präzisionen und Wurflängen erreichen kann. Allein das Bestimmen des richtigen Wurfes, die Kraftdosierung und die Wahl des Balles ist eine Wissenschaft für sich. Auch die Konzentration sowie das taktische Lesen der Partie sind sehr wichtig. Wie sich erahnen lässt, steckt der Teufel im Detail. Boccia erreicht jedoch ein sportliches Niveau, das international bis zu den Paralympics reicht.

Boccia-Nationalspieler Boris Nicolai in Aktion.

Boccia-Nationalspieler Boris Nicolai in Aktion.

Kannst du uns Boccia in maximal zwei Sätzen erklären?

Paralympisches Boccia wird in der Halle in einem Spielfeld von 12,5 Meter Länge und 6 Meter Breite auf Kunststoffboden oder Parkett gespielt. Es geht darum seine sechs Bälle näher am weißen Zielball zu platzieren, als die des Gegners.

Das waren in der Tat zwei Sätze, sehr gut. Wie sieht denn die Trainingswoche eines Boccia-Nationalspielers genau aus?

Meine Trainingswoche sieht so aus, dass ich montags und mittwochs mit meiner Mannschaft und meinem Vereinstrainer vom BRS Gersweiler (Saarbrücken) jeweils zwei Stunden in der Halle trainiere. Dabei übe ich die verschiedenen Wurfarten, die Taktik sowie das Spiel an sich. Also im Einzel, eins gegen eins, im Doppel auch Pairs genannt, zwei gegen zwei, und in der Mannschaft, drei gegen drei. Zusätzlich trainiere ich ein bis zwei Stunden Boccia zu Hause. Durch die relativ großen körperlichen Einschränkungen der paralympischen Bocciaspieler ist die körperliche Fitness sehr wichtig. Um mich fit zu halten, mache ich mehrere Stunden pro Woche Ausdauertraining am Ergometer oder fahre draußen mit meinem Aktivrollstuhl. Übungen zur Kräftigung und dem Erhalt der Muskulatur gehören auch zum Programm. Somit komme ich, neben meinem Vollzeitjob als Maschinenbautechniker, auf etwa zehn Stunden Training pro Woche

Es gibt ja auch einen inklusiven Boccia-Wettkampf, an dem behinderte und nicht-behinderte Sportler gegeneinander antreten. Kannst du uns diesen kurz beschreiben?

Ja, gerne. Das ist die Wettkampfform der nationalen Spiele, die nur deutschlandweit gespielt wird. Angetreten wird in Teams, drei gegen drei, wobei die Einschränkungen der Spieler sehr unterschiedlich sein können. Jeder Akteur bekommt eine Handicap-Punktzahl von 0 bis 4, was sozusagen auf die Mannschaft addiert bzw. angerechnet wird. Je höher die Punktzahl, desto größer die Einschränkung des Spielers. Im internationalen paralympischen Boccia werden die verschiedenen Krankheitsbilder in Handicap-Klassen unterteilt, so dass die Einschränkungen auf Chancengleichheit abgestimmt sind. Der Unterschied zum paralympischen Boccia ist, dass es keine Handicap-Klassen, sondern Handicap-Punktezahl für die Mannschaft gibt. Gestartet wird das Spiel demnach nicht bei 0:0 sondern zum Beispiel 6:3. Die Spielregeln sind ähnlich wie im paralympischen Boccia mit kleinen Abweichungen.

Von euch „Boccia-Jungs und –Mädels“ hat es ja keiner nach Rio zu den Paralympics geschafft. Was waren die Gründe dafür, dass niemand mitwirft und mitrollt?

Boccia ist schon seit 1984 paralympisch. Gespielt wird es in Deutschland aber erst seit 2003. Deutschland ist beim paralympischen Boccia ein echtes Entwicklungsland. Im Vergleich zu den führenden Nationen wie z. B Großbritannien, Brasilien, Kanada, China, Hong-Kong, Portugal und der Slowakei wird Boccia in Deutschland nur bedingt professionell betrieben. Die führenden Nationen kommen auf Trainingszeiten über 20 bis 30 Stunden pro Woche und haben ein Etat, der unseren stellenweise um mehr als das zehnfache übersteigt.

Was muss noch passieren, dass es die deutschen Spieler und Spielerinnen, so auch du, ganz an die Weltspitze schaffen?

Derzeit befinde ich mich auf Platz 39 der Weltrangliste im Einzel. Im Doppel belege ich mit meinem Doppelpartner Bastian Keller den 16. Platz der Weltrangliste. Erst seit zwei Jahren trainiere ich intensiv Boccia, und ich bin erst in meiner zweiten Wettkampfsaison. Wenn ich weiterhin mein Training in Sachen Qualität und Quantität steigern kann, habe ich gute Chancen, es in ein paar Jahren unter die Weltspitze zu schaffen. Um dies zu realisieren muss aber die Unterstützung des Deutschen Behindertensports insgesamt größer werden. Zurzeit reicht unser Nationalmannschaftsbudget nicht mal aus, um jeden der zehn Nationalspieler auf ein internationales Weltranglistenturnier zu schicken. Weltranglistenpunkte sind unbedingt notwendig, damit man sich für eine WM, EM oder die Paralympics qualifizieren kann. Ebenso gibt es derzeit keine Unterstützung der Boccia-Nationalmannschaft in Sachen Laufbahnberatung, Sponsorensuche oder auch dem Trainingsequipment, wie Bälle, Sportbekleidung und Wettkampfrollstühle.  Physiotherapie beim Training oder Wettkämpfen gibt es ebenfalls nicht. Die Anzahl der Trainingseinheiten muss ebenfalls gesteigert werden. Das sind die größten Stellschrauben, an denen gedreht werden muss, damit die Chancen steigen, um mit den großen Boccia-Nationen zu konkurrieren. Durch viel Eigeninitiative und auch die Unterstützung von Freunden, Familie sowie meinem Vereinstrainer, ist es mir dieses Jahr gelungen, die anfallenden Kosten für Weltranglistenturniere, Bälle, Trainingseinheiten und vieles mehr entsprechend zu minimieren. Jedoch bleibt ein nicht unbedeutender Teil an Eigenleistung bestehen.

Warum lohnt es sich auch für Zuschauer mal beim Boccia vorbeizukommen?

Boccia ist eine Sportart, die der Zuschauer schnell begreift und schnell und einfach selbst ausprobieren kann. Trotz der unterschiedlichen Einschränkungen ist es erstaunlich, wie gut die Spieler ihr körperliches Handicap beim Spielen kompensieren können. Oftmals entscheidet der letzte geworfene Ball in einem Satz über Sieg oder Niederlage. Mit einem super geworfenen Ball lässt sich der komplette Spielverlauf auf den Kopf stellen. Das Bocciaspiel lebt definitiv von der Spannung und ist auf Weltklasseniveau sehr unterhaltsam für die Zuschauer.

Abschließende Frage: Wo verbringst du den Sommer im Jahr 2020?

Zunächst in Deutschland. Ich würde mich gerne in einer intensiven Trainingsphase befinden bevor es dann im Flieger nach Tokio geht. Ob ich oder ein anderer deutscher Bocciaspieler die Qualifikation für Tokio schaffen hängt aber von etlichen Faktoren ab. Genügend Ansatzpunkte sind vorhanden. Also packen wir es an.

Na dann mal los – und vielen Dank für deine Zeit!

Interview: Martin Schenk // Foto: privat

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