Pick and Rollt. #03: Die entscheidenden Sekunden der Offense – Warum der Blick zurück der wichtigste Schritt nach vorne ist

Ein ganz entscheidender Moment jeder Possession beginnt lange bevor die 24-Sekunden-Uhr läuft. Meistens ist er bei 18 Sekunden auf der Shotclock schon vorbei, und doch trennt er gute von schlechten Teams, er erklärt, warum selbst schlecht gespielte Press- und Ganzfeldverteidigung im Rollstuhlbasketball sehr effektiv ist, und warum die Defense meist schon geschlagen ist, ehe der Ball überhaupt im Vorfeld ist: Fast alle Spieler denken das Spiel nur in eine Richtung.

Nicht nur im Rollstuhlbasketball: Die Shot-Clock bestimmt das Spielgeschehen

Nicht nur im Rollstuhlbasketball: Die Shot-Clock bestimmt das Spielgeschehen

Zum Glück ist das hier eine Kolumne und keine Auszeit, so dass ich zuvor einen Schlenker machen kann, der Euch hilft, zu verstehen, worum es mir geht. Kennt ihr das, wenn der Trainer  mit hochrotem Kopf in Auszeiten mit Sprüchen kommt: „Mensch, der muss doch mal das Spiel lesen!“  Es ist ein kleines Mysterium unseres Spiels – „schnell umschalten“, „besser fahren“, „Spiel lesen“ – das hört man immer wieder.

Ich würde mit Euch jede Wette eingehen, dass eine große Zahl der Spieler (und vielleicht auch Trainer) gar nicht oder nicht genau, was das bedeuten soll. Das ist auch recht so, weil es klassischer Bullshit ist. Nicht, weil man ein Spiel nicht „lesen“ könnte, sondern weil es niemandem hilft: Das Unvermögen, das Spiel zu verstehen und überschauen, kann man nicht einfordern – genauso wenig hilft ein Spruch wie „nun rechne noch mal richtig“ gegen Dyskalkulie.

Trotzdem ist das Spielverständnis der wichtigste Entwicklungsschritt im Rollstuhlbasketball, und deswegen will ich es für Euch heute mal an der Transition Offense anschneiden. Doch bevor ich darauf eingehe, zwei goldene Regeln, die für alles gelten und die einen generell zu einem beseren Rollstuhlbasketballer machen:

„Mach Dir bei allem, was Du machst, den Grund oder Zweck klar“, und  „Mach alles, was Du auf dem Feld machst, absolut konsequent“. 

Und das ist schon die erste Hälfte des Mythos Spielintelligenz: Viele Spieler haben kein klares Bild von dem, was sie und mit welchem Ziel sie machen. Und wenn sie es machen, dann machen sie es oft nicht überzeugt, sondern nur so, dass sie nicht auffallen oder der Trainer nicht schimpft.

Jetzt aber zur Transition Offense. Alle versuchen so schnell wie möglich nach vorne (bzw. zurück) zu kommen – fertig! Fertig? Halten wir mal den Film an und denken mal kurz nach: Ist es wirklich für das Spiel am Besten, wenn alle schnell vor fahren? Die Antwort ist natürlich „nein“. Viel besser wäre: „Wenn Du nicht den Ball hast, schaue, ob Du einen Backpick erwischen kannst.“ Der Backpick – zu deutsch „zurückhalten“ bedeutet nichts anderes, als einen Verteidiger zu stellen und zu halten, idealerweise, bis sich der Angreifer in der Offense orientiert haben.

Es gibt zwei einfache Gründe, warum man sich das als Mannschaft zum Prinzip machen sollte: Der erste ist klar: Jeder Verteidiger, der nicht in der Defense mitspielen kann, verschiebt das Verhältnis von Angreifern zu Verteidigern zugunsten der angreifenden Mannschaft. 2:1 oder 3:2 ist besser als 2:2. Die größeren Überzahlen, 4:3 und 5:4 sind schwieriger zu spielen, aber 5:3 ist erneut eine optimale Situation für offene Würfe. Alles, was man in den ersten Sekunden des Angriffs unternehmen kann, eine Überzahl zu erzeugen, muss man später nicht mühsam gegen eine sortierte Defense im Set-Play erarbeiten. Es lohnt also, einmal kurz in einen Backpick zu sprinten, weil man als Mannschaft meist mit einem einfachen Wurf dafür belohnt wird.

Das Spiel zu jeder Sekunde lesen

Das Spiel zu jeder Sekunde lesen

Und der zweite Grund erklärt, warum ich so einen langen Umweg in den Backpick genommen habe: Mit dem einfachen Auftrag „Such Dir einen Backpick!“ bringt man Spielern ein Stück Spielintelligenz bei. Wenn man als Trainer Spieler besser machen will, muss man den Blick darauf haben, was der Spieler bereits kann, man muss wissen, welches Ziel man mit dem Spieler hat, und man muss sorgfältig nachdenken, welche kleinen Schritte man zu diesem Ziel unternimmt.

Von „Suche Dir sofort einen Backpick“ kann man nun weitergehen über die Frage, welcher Spieler welchen Gegner stellt, an wen (und warum!) er ihn übergibt, um möglichst die besten Scorer, rumpfstabilsten oder schnellsten Spieler in der Überzahlsituation zu haben, oder Gegner im Klassifizierungs- oder Größen-Mismatch zu binden. Aus der einfachen Anweisung kann also werden: „Stelle den Spieler X, der der beste Verteidiger ist, bringe ihn zum Stehen und übergebe ihn an einen Mitspieler, damit Du in der Offense als Trailer in die Überzahl kommst und hinter einem Low-Seal von Y ans Brett kommst“. Das ist dann schon fast systematischer Basketball, recht einfach erklärt und aus Basics „zusammengebaut“.

Das obligatorische Namedropping: Einen Spieler, den ihr in der Transition-Offense mal beobachten solltet, ist Dirk Passiwan – meines Erachtens einer der besten Regisseure dieser Phase des Angriffs. Dirk kommt nur selten zum Stehen, selbst wenn er hart verteidigt wird. Solange es geht, sucht er seine Mitspieler, die ihm entweder aktiv mit Screens oder Picks helfen oder an gegen die er seinen Verteidiger zieht und ihn zum Ausweichen zwingt. Sein aberwitziges Scoring ist zum großen Teil die Belohnung für einen detailversessenen Basketballer, der fast nie den Blick für das gesamte Spielgeschehen verliert.

Was könnt ihr aus der vorletzten Kolumne mitnehmen? Versucht immer, alle Spieler auf dem Feld zu sehen, überlegt, wohin ihr fahrt und warum. 

Macht Euch eine schöne Vorweihnachtszeit, ihr lest mich wieder mit der Weihnachtsausgabe am 20. Dezember. Danke für die vielen positiven Kommentare, und wie immer: Wenn Ihr Fragen hat oder irgendetwas am Spiel einmal erklärt haben wollt, nutzt die Kommentarspalte oder die Facebook-Seite von Rollt. 

Und das obligatorische P.S.:  Unsere Offense beginnt für mich nicht erst, wenn wir „Ballkontrolle“ im Sinne der Regeln herstellen, sondern bereits in dem Moment, wo kein gegnerischer Spieler mehr Ballkontrolle hat. Man kann eine Menge machen, während alle dem Ball hinterher gucken. Probiert’s mal aus – ich glaube, ich schreibe demnächst mal drüber.

 

Daniel-Stange-199x300Daniel Stange ist Rollstuhlbasketballer seit 1998. Zu seinen Stationen zählen der RSV Lahn-Dill und die SG/MTV Braunschweig. Der C-Lizenz-Trainer war u.a. hospitierendes Mitglied im Coaching Staff der Herren-Nationalmannschaft für die EM 2011 sowie Assistenztrainer für die Herren-Nationalmannschaft 2013. Schwerpunktthemen: Spielanalyse, Videoanalyse und Scouting. Im normalen leben ist Daniel Stange Historiker und freiberuflicher Journalist. Für Rollt. bloggt er in der Kategorie “Pick and Rollt.” %CODE1%

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